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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 18.1906

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Michel, Wilhelm: Phantasie und Erfindungsgabe
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https://doi.org/10.11588/diglit.8554#0060

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Auch hier hat Schiller an zahlreichen Stellen
die Energie des Urtextes abgeschwächt
und die wertvolle Filigranarbeit Shake-
spearescher Phantasie vernichtet. Er be-
wies damit, was uns hier nicht weiter
interessiert, die Inferiorität seiner Phan-
tasie gegenüber derjenigen Shakespeares.
Er beweist damit aber auch, worauf es
uns hier ankommt, dass Erfindung und
Phantasie zweierlei sind und dass die
letztere den Ausschlag gibt.

Man erinnert sich der Klingerschen
Radierung, die »Ein Schuss« betitelt ist.
Die Arbeit der Erfindung an diesem
Blatt ist folgende: Eine Dame gibt im
Park ihrem Liebhaber ein Stelldichein.
Der Gatte beobachtet das Zusammen-
treffen der Ahnungslosen von einem durch
Jalousien verschlossenen Fenster des nahe-
gelegenen Wohnhauses und schiesst unter
der Jalousie hervor den Räuber seiner

Ehre nieder. Ein hochdramatischer Stoff,
von dem man nur sagen kann, dass die
Erfindung damit eine vorzügliche, wert-
volle Arbeit geleistet habe. Nun setzt
die Phantasie ein. Ihrer Tätigkeit Schritt
für Schritt zu folgen, verbietet sich natür-
lich von selbst, weil sonst fast jede ein-
zelne Linie besprochen werden müsste.
Die Phantasie gestaltet, hörten wir. Sie
stellt dar, sie verlebendigt, wie das schlechte
Wort für die gute Sache lautet. Ge-
stalten heisst beiläufig: charakterisieren.
Das Charakteristische des Vorganges liegt
in seiner grausamen Plötzlichkeit, in seinem
brutalen, blitzartigen Auftreten. Darum
umgibt der Künstler alle toten Dinge, die
Zeugen des Vorganges sind, mit einer
heiteren sorglosen Sommermittagsstim-
mung, die zum Träumen, zum stillen Ge-
niessen einlädt. Man hört die Bäume
rauschen, die Fontänen rieseln, die Vögel

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