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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 20.1907

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Michel, Wilhelm: Wandschmuck
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https://doi.org/10.11588/diglit.9555#0278

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Wilhelm Michel—München

WANDSCHMUCK.

Wann wurde je so viel über Kultur ge-
redet wie heute ? Aber was unter
diesem Namen geht, ist Eigentum von Wenigen
und unerfüllte Sehnsucht von Vielen. Wir
haben schöne Buchtitel und Vorsatzpapiere,
aber kein Niveau des schriftlichen Aus-
druckes , keinerlei allgemeine Kultur in der
schriftstellerischen Behandlung großer Gegen-
stände. Wir haben äußerlich — man be-
trachte nur den Alexandrinismus unserer Buch-
Ausstattung — die Geberde kultivierter Zeiten,
aber die Roheit der Gründerjahre sitzt uns
tief innen im Geblüt. Wir haben die Un-
sicherheit des Parvenüs und die Taktlosigkeit
des kleinen Mannes, der einen Lotteriegewinn
gemacht hat. Wir haben die blasierten
Mienen abgeschliffener, durch viele Proben
gegangener Leute. Aber wir fallen in Dingen

prof, bruno paul. Wäscheschrank im Schlafzimmer.

der Kunst und des geistigen Lebens täglich
und stündlich auf die plumpsten Schwindeleien
hinein. Wahres und Falsches, Echtes und
Unechtes zu unterscheiden, dazu fehlt uns
jede Befähigung. Hilflos stehen unsere
Gebildeten vor dem verwirrenden Angebot
geistiger und künstlerischer Werte und offen-
baren in ihrer Auswahl einen Jahrmarkts-
geschmack , der sie in aller Augen heillos
blamieren sollte. Aber es ist gerade ein
Hauptmerkmal unserer Kulturlosigkeit, daß
man sich heute kaum mehr blamieren kann.
Man darf die erbärmlichsten und schimpf-
lichsten Dinge sagen, schreiben und tun, und
man behält seine volle gesellschaftliche Ehre.
Man darf sich als vollendeten Zulukaffer be-
währen und läuft keine Gefahr, auch nur einen
einzigen seiner Bekannten zu verlieren. Man
ist Reichsgraf und läßt sich nebst Frau und
Kindern, Schwiegertöchtern und Schwieger-
söhnen von einem Tüncher porträtieren,
dessen Farbenskala, dessen Zeichnung ge-
radezu einen Angriff auf das Schamgefühl
des Beschauers darstellen. Man hängt die
so besudelte Leinwand im Repräsentations-
saal auf, und man gilt infolgedessen nicht
etwa für einen minderwertigen, rohen Ge-
sellen, sondern für einen Förderer der Kunst.

Der Bürger kommt dem modernen
Kunstgewerbe langsam nach. Er kauft
moderne Schreibtischgarnituren, Vasen und
Tafelservice, er läßt seinen Plafond weiß
streichen und richtet sich mit Möbeln ein,
die bekannten Kunstgewerblern ihr Dasein
verdanken. Sind das Anzeichen für eine
Verbesserung des Geschmacks? — Betritt
man ein solches Haus, so könnte man fast
auf den Gedanken kommen, hier wohne
Geschmack, hier walte Kultur, hier schalte
sichere, nach Harmonie, Ordnung und Ein-
heit strebende Empfindung. Denn siehe,
alles, was an den Wänden herumsteht, was
hinter den geschliffenen Scheiben des Glas-
schrankes funkelt, was an Poterieen und
Keramiken die freien Flächen der Möbel
bedeckt, alles ist fertig oder »komplett«
im kunstgewerblichen Magazin gekauft. Wir
sagen uns das und fühlen uns von leisem
Unbehagen ergriffen. Diese tadellose, aus
dem Magazin bezogene Einheit irritiert.
— Aber nein! Dort an der Wand ist

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