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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 22.1908

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Michel, Wilhelm: Goethe und die bildende Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.7006#0074

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F. Adler.
Wohnzimmer
Mahagoni.
Ausführung:
Ph. Recht-
steiner
Laupheim.

sie selbst bei schlechter und mangelhafter
Ausführung dem Auge soviel Unterhaltung
gebe, daß man sich immerhin an ihren Werken
erbauen könne. Er nahm die Kunst stofflich,
nicht sinnlich. Sein Realismus bewahrte ihn
nicht davor, daß ihm die Idee bei der Auf-
nahme künstlerischer Schöpfungen einen Streich
spielte. Er begeht, zumal in Italien, die un-
geheuerliche Sünde, an alle Kunstwerke heran-
zutreten mit der vorgefaßten Überzeugung,
daß die Antike das Höchste menschlicher
Kunstleistung und somit — hier liegt der
Fehler — das einzige Maß des Urteils, das
einzige Ziel des Strebens bedeute. Er nahm
die Antike buchstäblich wie die Kunst seiner
Zeit-, er wußte ihre wahrhaftige, innere Größe
nicht zu trennen von ihrer fixen Form. Diese,
nicht jene, war es, die er zur Nachahmung
empfahl und seinem Urteil zu Grunde legte.
Folgerichtig mußte er dazu kommen, die
wörtlichste Übereinstimmung mit der Antike
als höchste Kunst anzusehen. Es ist selt-
sam : man findet bei ihm Stellen, wo er das
Schaffen eines Künstlers mit zeitlichen und

biographischen Bedingungen in einer Weise
in Verbindung setzt, die fast auf Hippolyte
Taines historische Kunstlehre hindeutet. Ich
erinnere z. B. an die interessante Erör-
terung über Mantegnas »Triumphzug«, wo er
den Widerspruch zwischen dem stilistischen
Streben des Künstlers und seiner beispiel-
losen Naturtreue rein biographisch zu er-
klären unternimmt. Daß aber das Ganze
des Kunstschaffens zu derlei individuellen,
historischen Daten in gesetzmäßiger Be-
ziehung stehe, daß die Kunst aus dem Leben
herauswachse, nicht aber auf eine bestimmte,
für alle Zeiten und Menschen gültige Idee
hinziele, das ist ihm verschlossen geblieben.
Als Kunsttheoretiker ist Goethe durchaus
Idealist. Er glaubt an ein ewiges Ideal alles
Kunstschaffens, ein Ideal, das er nicht durch
relative Kriterien bestimmt. Er abstrahiert
aus der Antike nicht das Gesetz, das
ihren eigentlichen Gehalt ausmacht, sondern
nimmt sie mit all ihren Schlacken, mit der
ganzen Zufälligkeit ihrer äußeren Erscheinung
auf Treu und Glauben als Ideal hin. Wenn er

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