Dr. Hans Bcthge:
CHINESISCHES GEMÄLDE: »NÄHENDE FRAU«.
BEZ.: CHANG-WEI. ANFANG DER TSCH1NG-EP0CHE.
(1644 BIS JETZT.)
ungeheurer Höhe, der schlank herabflutet an
wilden Felsen und dessen unten zerschäumen-
des Naß sich in ein ornamentales Gekräusel
auflöst, eine reine Landschaft, wie es scheint,
aber sehen wir näher hin, so erblicken wir
unten einen Pavillon mit kleinen Menschlein,
die angeregt dem Schauspiel des herabstürzen-
den Wassers zuschauen. Einsame Frauen
stehen in Landschaften und erfüllen sie mit
einer lyrischen Anmut wundervoller Art. Wir
sehen schlanke Gestalten von mädchenhafter
Holdheit und von einer Süße der Bewegung,
die uns ganz hinnimmt. Wir sehen Frauen
von ganz madonnenhaftem Wesen, wir werden
geradezu an die Madonnen der frühen,
primitiven Künstler in Italien erinnert, an die
Gestalten von Giotto und Cimabue. Eine
ganze Reihe von Bildern erinnert, wenn man
sie aus einiger Entfernung betrachtet, nach
Zeichnung und Farbe an die Malereien des
Trecento; erst wenn man näher herantritt,
erkennt man die chinesische Linie.
Die schön wallenden Gewänder der Frauen
werden mit großer Liebe behandelt, und
Bänder flattern dahin in ornamentalem
Schwung. Eine Blumen streuende Halbgöttin,
deren Gewänder wie ein schönes Ornament
erscheinen, mutet an wie eine liebliche
Tänzerin in den Lüften. Unter den eigent-
lichen Porträten finden sich sehr bedeutende
Stücke. Das nicht datierte Doppelbildnis
eines hohen Beamten mit seiner Frau, das
wir wiedergeben, ist von außerordentlicher
Charakteristik und auch durch seine energi-
schen Farben sehr eindrucksvoll: wie mächtig
ist der Kopf der Frau gesehen. Das »Weib-
liche Porträt«, das wir gleichfalls wiedergeben,
ist um 1600 entstanden, vermutlich durch
den Pinsel Chen-Lau-Lins, und wirkt be-
zaubernd durch seine Vornehmheit und Dis-
kretion; vor dem Original tauchen Em-
pfindungen auf, die nach Griechenland hin-
überweisen. Das »Bildnis zweier Damen«
(Abbildung S. 70), das nicht datiert ist,
nimmt durch seinen grazilen Duktus, durch
die Anmut der Gestalten sofort gelangen.
Das Bildnis des Priesters Tamo (Abbildung
S. 74) ist nicht mehr Porträt zu nennen.
Das kostbare Bild stammt von Tang-Yin
(1522—1567). Tamo geht in der Mongolei
auf die Jagd. Er und sein Kamel sehen
nach oben, dem über ihnen fliegenden Vogel
nach. Aber auch die Berge sehen nach
oben und die Höcker des Kameles und Alles.
Auf dem Bildrand steht: »Es wird Abend
und es fängt leise an zu schneien«. Winter-
liche Luft liegt über dem Bilde und eine ganz
mystische Stimmung, die etwas Ergreifendes hat.
Soviel Yon den chinesischen Gemälden,
deren Bekanntschaft wir Frau Olga Julia
Wegener verdanken. Auf diesen flächigen
Bildern, die den Schatten der Dinge wieder-
zugeben immer vermeiden, konnte man so
ziemlich alle Nuancen der malerischen Dar-
stellung verfolgen, die wir von unserer euro-
«2
CHINESISCHES GEMÄLDE: »NÄHENDE FRAU«.
BEZ.: CHANG-WEI. ANFANG DER TSCH1NG-EP0CHE.
(1644 BIS JETZT.)
ungeheurer Höhe, der schlank herabflutet an
wilden Felsen und dessen unten zerschäumen-
des Naß sich in ein ornamentales Gekräusel
auflöst, eine reine Landschaft, wie es scheint,
aber sehen wir näher hin, so erblicken wir
unten einen Pavillon mit kleinen Menschlein,
die angeregt dem Schauspiel des herabstürzen-
den Wassers zuschauen. Einsame Frauen
stehen in Landschaften und erfüllen sie mit
einer lyrischen Anmut wundervoller Art. Wir
sehen schlanke Gestalten von mädchenhafter
Holdheit und von einer Süße der Bewegung,
die uns ganz hinnimmt. Wir sehen Frauen
von ganz madonnenhaftem Wesen, wir werden
geradezu an die Madonnen der frühen,
primitiven Künstler in Italien erinnert, an die
Gestalten von Giotto und Cimabue. Eine
ganze Reihe von Bildern erinnert, wenn man
sie aus einiger Entfernung betrachtet, nach
Zeichnung und Farbe an die Malereien des
Trecento; erst wenn man näher herantritt,
erkennt man die chinesische Linie.
Die schön wallenden Gewänder der Frauen
werden mit großer Liebe behandelt, und
Bänder flattern dahin in ornamentalem
Schwung. Eine Blumen streuende Halbgöttin,
deren Gewänder wie ein schönes Ornament
erscheinen, mutet an wie eine liebliche
Tänzerin in den Lüften. Unter den eigent-
lichen Porträten finden sich sehr bedeutende
Stücke. Das nicht datierte Doppelbildnis
eines hohen Beamten mit seiner Frau, das
wir wiedergeben, ist von außerordentlicher
Charakteristik und auch durch seine energi-
schen Farben sehr eindrucksvoll: wie mächtig
ist der Kopf der Frau gesehen. Das »Weib-
liche Porträt«, das wir gleichfalls wiedergeben,
ist um 1600 entstanden, vermutlich durch
den Pinsel Chen-Lau-Lins, und wirkt be-
zaubernd durch seine Vornehmheit und Dis-
kretion; vor dem Original tauchen Em-
pfindungen auf, die nach Griechenland hin-
überweisen. Das »Bildnis zweier Damen«
(Abbildung S. 70), das nicht datiert ist,
nimmt durch seinen grazilen Duktus, durch
die Anmut der Gestalten sofort gelangen.
Das Bildnis des Priesters Tamo (Abbildung
S. 74) ist nicht mehr Porträt zu nennen.
Das kostbare Bild stammt von Tang-Yin
(1522—1567). Tamo geht in der Mongolei
auf die Jagd. Er und sein Kamel sehen
nach oben, dem über ihnen fliegenden Vogel
nach. Aber auch die Berge sehen nach
oben und die Höcker des Kameles und Alles.
Auf dem Bildrand steht: »Es wird Abend
und es fängt leise an zu schneien«. Winter-
liche Luft liegt über dem Bilde und eine ganz
mystische Stimmung, die etwas Ergreifendes hat.
Soviel Yon den chinesischen Gemälden,
deren Bekanntschaft wir Frau Olga Julia
Wegener verdanken. Auf diesen flächigen
Bildern, die den Schatten der Dinge wieder-
zugeben immer vermeiden, konnte man so
ziemlich alle Nuancen der malerischen Dar-
stellung verfolgen, die wir von unserer euro-
«2