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14. Bildnerei und Baukunst in Norwegen

schlechter der Menschen sind. Großmutter betreut das Enkelchen,
Kinder tanzen um den Baum, Jungfrauen träumen und blicken
sehnsüchtig dem Leben entgegen, Jünglinge und Mädchen suchen,
finden, umschlingen sich. Die Menschen dieser Bildwerke sind voll
von tiefem ernstem Gefühl, voll von Sehnsucht nach jener Erfüllung
des Lebens, die sich in der Vereinigung von Mann und Frau voll-
zieht, und besonders die Begegnung zwischen Jüngling und Mädchen
ist mit ungemeiner Innigkeit und Keuschheit geschildert. In der
Motivstellung den Aulagemälden Munchs verwandt, geben Vige-
lands Brunnengruppen doch eine von Grund aus andere Welt: dort
wird der Mensch zu einem unbekümmerten, ungeistigen Natur-
geschöpfe, hier ist er liebend, leidend, beglückend und beglückt.
Was die Formgebung arilangt, so erzeugen vielfältige Überschnei-
dungen, weitausgreifende Gebärden, kühne Bewegungen eine starke
räumliche Illusion; von allen Seiten frei eindringend durchspült
der Raum die Gruppen, die ohne feste Begrenzungen, ein End-
liches in das Unendliche, in ihn eingehen.
Wird schon in diesem Teile der Schöpfung eine wachsende Nei-
gung zur Stilisierung wahrnehmbar, so vollzieht sich in den Bild-
werken für die große Treppenanlage ein merkwürdiger Stilwandel,
auf den die Wahl eines neuen Materials, des Granits, nicht ohne
Einfluß gewesen sein dürfte, in dem man aber auch Anregungen
der ostasiatischen Plastik, vielleicht auch Maillols erkennen kann.
An die Stelle des ephebenhaften Menschenschlages Vigelands treten
mächtige schwere Körper, die Formen ballen sich wuchtig zusammen
und explodieren wieder in gewaltigen, an Michelangelo erinnernden
Bewegungen. Der Naturalismus ist überwunden, illusionistische Wir-
kungen sind vermieden, die Gestalten werden rein aus ursprüng-
lichen plastischen Vorstellungen heraus gebildet, und Vigelands
plastisches Vermögen entfaltet sich erst jetzt in voller Freiheit.
Dargestellt werden Urformen menschlichen Seins und Seelenlebens:
Mann, Weib und Kind, beruhigte Existenz, Kampf und Sorge,
Sehnsucht und Hingebung. Man möchte glauben, daß der Künstler
bei der Gesamtanlage des Brunnens eine planmäßige Steigerung im
Auge gehabt habe, indem er den Menschen in der Treppenniederung
in dumpfer Schicksalsgebundenheit, in den krönenden Lebensbaum-
 
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