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Blaue Augen.
(Fortsetzung.
Die Mahlzeit war regelrecht in den Korb gepackt, die
Uhr unter Anna's Spiegel schlug Eins, und Brennekc trug den
Korb die Treppe hinaus an das Bett seines Herrn. Professor
Delius hielt nicht viel auf kulinarische Genüsse. Er betrachtete
das Essen als ein »othwendiges Uebel, als ein störendes Be-
dürfnis; der inangclhaften Natur, das man so schnell und mit
so wenig Umständen, wie nur möglich, befriedigen müsse. Die
Freuden der Tafel waren in seinen Angen bie niedrigsten, des
Menschen unwürdigsten.
„Brenneke," sagte er, „als er den Deckel von dem Teller
anfhob, der die Suppe enthielt, „hat der Wirth in der Kanone
etiva eine neue Köchin in de» Dienst genommen ?"
„Das ist leicht möglich/' entgegnete Brenneke.
„Oder sendet er mir in Rücksicht auf meinen Zustand
vielleicht ein besseres Essen?" fuhr der Professor fort.
„Auch niöglich," gab Brenneke zu.
„Ich sehe jetzt endlich ein," nahm Delius wieder das
Wort, nachdem er einige Lössel Suppe genommen hatte, „daß
zwischen Kochen und Kochen doch ein gar gewaltiger Unter-
schied besteht. Jetzt weiß ich erst, tvas Suppe ist," rief er
gutgelaunt aus und machte sich dann mit lobcnswerther
Energie an die herrliche Kraftbrühe, in welcher zwischen aroma-
tischen Spargclköpfchen eine weich gekochte, delikat gefüllte junge
Taube lag. „Hier muß man ja zum Epiknräer werden, mag
man wollen oder nicht," sagte er fröhlich lächelnd, als er die
ersten Bissen der zweiten Schüssel, frische, junge Zuckererbsen
mit saftigen Kalbskotclcttcs, gekostet hatte. — „Vergeht cs mir
ja nicht, Brenneke," sagte er unter dem Essen, „dem Kanonen-
wirth meinen Dank auszusprechcn und ihn zu bitten, um jeden
Preis, den er will, mir fortan täglich ein ähnliches Essen zu
schicken." — Der Professor wurde immer heiterer und redseliger,
wie er cs noch nie gewesen war. „Vortrefflich," rief er ans,
„ein wahres Meisterstück der Kochkunst!" und dabei bekräftigte
er seine Worte dadurch, daß er mit Behagen von einem ge-
bratenen Huhn aß, das mit Früchten, die Anna selbst eingemacht
hatte, den Schluß des Mahles bildete. — „Es ist fast des
Guten zu viel," meinte der Professor, „aber die Sachen sind
so ausgezeichnet, daß man allen seinen Grundsätzen schlechterdings
untreu werden muß."
Brennckcs Ahnung traf denn auch ein; Delius ließ
nichts für ihn übrig. Aber er war durch das gute Mahl in
! so gute Laune gcrathen, daß er freigebig, wie er überhaupt war,
j Brenneke ein reichliches Geldgeschenk machte und dabei sagte:
„Ich habe cs recht gut gemerkt, Brenneke, daß Ihr während
meiner Krankheit das gegessen habt, ivas ich übrig gelassen habe.
Ihr sollt, weil cs mir schmeckt, nicht Roth leiden, dafür stehe
ich Euch. Laßt mich jetzt allein, und bringt mir morgen ein
eben so gutes Mahl/wie cs das heutige war."
Brenneke entfernte sich vergnügt lächelnd und Anna, die
heute zwei Personen zugleich glücklich gemacht hatte, den Professor
und seinen Diener, hörte freudestrahlend des Letzteren Bericht an
und gcricth dann in einen cigenthümlichcn Widerspruch mit
sich selbst, indem sie einerseits die baldige Genesung des Kranken
wünschte, andererseits aber auch gar zu gerne ihre Kochkunst in
Delius' Interesse auch über die Zeit der Krankheit hinaus ver-
lverthet hätte. Brenneke, dem sie die in ihrer Seele mit
einander streitenden Gefühle mitgctheilt hatte, erhob prophetisch
seine Pelzmütze, sprach von der Ungewißheit der Zukunft und
schloß mit den Worten: „omnia jam llunt, üeri quae posse
negabam, wie' wir Gelehrten mit dem Dichter sagen." —
Die Sonne neigte sich stark dem Untergang zu, als die Töne
: von Anna's Klavier laut und hell an das Ohr des Professors schlugen-
„Endlich," sagte dieser mit dem Ausdrucke der Freude
über die Erfüllung einer lang gehegten Erwartung.
Zuversichtlicher und furchtloser als gestern, hatte sich Anna
heute an das Klavier gesetzt. Wie schön sic spielte! Wie ver-
: ständnißinnig! Wie tief gefühlvoll! Bald klang cs ans den
Saiten hervor wie lauter, brausender Gewittersturm, bald wie
das leise Hauchen des Maiwindcs oder der Ton ferner Sonntags-
glockcn; fröhlicher Jubel und laute Klage, heiterer Gesang und
leises Weinen; stiller Schnierz und feste Zuversicht, — das
Alles hallte so wunderbar, so tief empfunden, so natürlich durch
den Raum, daß man wohl merken mußte, eine reine, edle, fein-
gebildete Seele denke, fühle und spreche in diesen Tönen. Das
merkte der Professor auch sehr' wohl. Regungslos auf seinem
Bette liegend lauschte er den herrlichen Tönen, die ihm tvic die
schöne Sprache eines ihm unbekannten Wunderlandes klangen.
Er wurde sehr ernsthaft, als er sich mit einem trüben Blick
j auf die mit Büchern bedeckten Wände seiner Wohnung die
Frage vorlegte, wie cs wohl komme, daß er, der so viele fremde,
schwierige Sprachen gelernt habe, nicht auch die Sprache verstehe,
die aus den Tönen der Musik zu ihm redete. Als ob er sie
nicht, wenn auch halb unbewußt, recht wohl verstanden hätte!
Als ob nicht ein feuchter Schimmer sein Auge umflort hätte,
als plötzlich nach einem leisen lieblichen Vorspiel Anna mit
heller, sanfter, wohlklingender Stimme die anmuthige Arie von
den Blumenglücken, die den lieblichen Festtag einläutcn, aus
Mendelssohns gefühlsinnigem Singspiel „die Heimkehr aus
der Fremde" zu singen begann. Ein feuchter Schimmer in
den Augen des Professor Reinhold Delius! Das war kaum
glaublich und doch war cs so. Anna's Spiel tönte gerade, als
ob alle Blumen des Sommers sich vereint hätten, um mit
den hellen Glocken ihrer bunten Kelche den lieblichen Festtag
einer Heimkehr ans der Fremde einzuläuten. Ja, es zog den
Professor mit muviderstehlichcr, süßer Gewalt heim, und er folgte
diesem Zuge. Heimwärts in das Reich schöner, edler, beseligender
Gefühle, von welchem ihn bis jetzt kalte, nüchterne, herzlose
Berechnung und trockene Vcrstandcsthätigkeit fern gehalten hatte»;
heimwärts in das eigene, ursprünglich so schön und edel angelegte
Herz, dessen bessere Regungen so lange von gelehrtem Unkraut über-
wuchert, aber glücklicherweise noch nicht erstickt waren; heimwärts
ans düsterer Einsamkeit in den Kreis froher Mitmenschen; heim-
wärts aus dem Bann des Dünkels, des Stolzes und der Verdrossen-
heit zu dem Zauber der Freude, der Güte, des Mitgefühls!
„Es wollen die Blume» mit ihrem Schein der lieblichsten
Zeiten Herold sein!" so scholl cs >vic jauchzend und frohlockend
Blaue Augen.
(Fortsetzung.
Die Mahlzeit war regelrecht in den Korb gepackt, die
Uhr unter Anna's Spiegel schlug Eins, und Brennekc trug den
Korb die Treppe hinaus an das Bett seines Herrn. Professor
Delius hielt nicht viel auf kulinarische Genüsse. Er betrachtete
das Essen als ein »othwendiges Uebel, als ein störendes Be-
dürfnis; der inangclhaften Natur, das man so schnell und mit
so wenig Umständen, wie nur möglich, befriedigen müsse. Die
Freuden der Tafel waren in seinen Angen bie niedrigsten, des
Menschen unwürdigsten.
„Brenneke," sagte er, „als er den Deckel von dem Teller
anfhob, der die Suppe enthielt, „hat der Wirth in der Kanone
etiva eine neue Köchin in de» Dienst genommen ?"
„Das ist leicht möglich/' entgegnete Brenneke.
„Oder sendet er mir in Rücksicht auf meinen Zustand
vielleicht ein besseres Essen?" fuhr der Professor fort.
„Auch niöglich," gab Brenneke zu.
„Ich sehe jetzt endlich ein," nahm Delius wieder das
Wort, nachdem er einige Lössel Suppe genommen hatte, „daß
zwischen Kochen und Kochen doch ein gar gewaltiger Unter-
schied besteht. Jetzt weiß ich erst, tvas Suppe ist," rief er
gutgelaunt aus und machte sich dann mit lobcnswerther
Energie an die herrliche Kraftbrühe, in welcher zwischen aroma-
tischen Spargclköpfchen eine weich gekochte, delikat gefüllte junge
Taube lag. „Hier muß man ja zum Epiknräer werden, mag
man wollen oder nicht," sagte er fröhlich lächelnd, als er die
ersten Bissen der zweiten Schüssel, frische, junge Zuckererbsen
mit saftigen Kalbskotclcttcs, gekostet hatte. — „Vergeht cs mir
ja nicht, Brenneke," sagte er unter dem Essen, „dem Kanonen-
wirth meinen Dank auszusprechcn und ihn zu bitten, um jeden
Preis, den er will, mir fortan täglich ein ähnliches Essen zu
schicken." — Der Professor wurde immer heiterer und redseliger,
wie er cs noch nie gewesen war. „Vortrefflich," rief er ans,
„ein wahres Meisterstück der Kochkunst!" und dabei bekräftigte
er seine Worte dadurch, daß er mit Behagen von einem ge-
bratenen Huhn aß, das mit Früchten, die Anna selbst eingemacht
hatte, den Schluß des Mahles bildete. — „Es ist fast des
Guten zu viel," meinte der Professor, „aber die Sachen sind
so ausgezeichnet, daß man allen seinen Grundsätzen schlechterdings
untreu werden muß."
Brennckcs Ahnung traf denn auch ein; Delius ließ
nichts für ihn übrig. Aber er war durch das gute Mahl in
! so gute Laune gcrathen, daß er freigebig, wie er überhaupt war,
j Brenneke ein reichliches Geldgeschenk machte und dabei sagte:
„Ich habe cs recht gut gemerkt, Brenneke, daß Ihr während
meiner Krankheit das gegessen habt, ivas ich übrig gelassen habe.
Ihr sollt, weil cs mir schmeckt, nicht Roth leiden, dafür stehe
ich Euch. Laßt mich jetzt allein, und bringt mir morgen ein
eben so gutes Mahl/wie cs das heutige war."
Brenneke entfernte sich vergnügt lächelnd und Anna, die
heute zwei Personen zugleich glücklich gemacht hatte, den Professor
und seinen Diener, hörte freudestrahlend des Letzteren Bericht an
und gcricth dann in einen cigenthümlichcn Widerspruch mit
sich selbst, indem sie einerseits die baldige Genesung des Kranken
wünschte, andererseits aber auch gar zu gerne ihre Kochkunst in
Delius' Interesse auch über die Zeit der Krankheit hinaus ver-
lverthet hätte. Brenneke, dem sie die in ihrer Seele mit
einander streitenden Gefühle mitgctheilt hatte, erhob prophetisch
seine Pelzmütze, sprach von der Ungewißheit der Zukunft und
schloß mit den Worten: „omnia jam llunt, üeri quae posse
negabam, wie' wir Gelehrten mit dem Dichter sagen." —
Die Sonne neigte sich stark dem Untergang zu, als die Töne
: von Anna's Klavier laut und hell an das Ohr des Professors schlugen-
„Endlich," sagte dieser mit dem Ausdrucke der Freude
über die Erfüllung einer lang gehegten Erwartung.
Zuversichtlicher und furchtloser als gestern, hatte sich Anna
heute an das Klavier gesetzt. Wie schön sic spielte! Wie ver-
: ständnißinnig! Wie tief gefühlvoll! Bald klang cs ans den
Saiten hervor wie lauter, brausender Gewittersturm, bald wie
das leise Hauchen des Maiwindcs oder der Ton ferner Sonntags-
glockcn; fröhlicher Jubel und laute Klage, heiterer Gesang und
leises Weinen; stiller Schnierz und feste Zuversicht, — das
Alles hallte so wunderbar, so tief empfunden, so natürlich durch
den Raum, daß man wohl merken mußte, eine reine, edle, fein-
gebildete Seele denke, fühle und spreche in diesen Tönen. Das
merkte der Professor auch sehr' wohl. Regungslos auf seinem
Bette liegend lauschte er den herrlichen Tönen, die ihm tvic die
schöne Sprache eines ihm unbekannten Wunderlandes klangen.
Er wurde sehr ernsthaft, als er sich mit einem trüben Blick
j auf die mit Büchern bedeckten Wände seiner Wohnung die
Frage vorlegte, wie cs wohl komme, daß er, der so viele fremde,
schwierige Sprachen gelernt habe, nicht auch die Sprache verstehe,
die aus den Tönen der Musik zu ihm redete. Als ob er sie
nicht, wenn auch halb unbewußt, recht wohl verstanden hätte!
Als ob nicht ein feuchter Schimmer sein Auge umflort hätte,
als plötzlich nach einem leisen lieblichen Vorspiel Anna mit
heller, sanfter, wohlklingender Stimme die anmuthige Arie von
den Blumenglücken, die den lieblichen Festtag einläutcn, aus
Mendelssohns gefühlsinnigem Singspiel „die Heimkehr aus
der Fremde" zu singen begann. Ein feuchter Schimmer in
den Augen des Professor Reinhold Delius! Das war kaum
glaublich und doch war cs so. Anna's Spiel tönte gerade, als
ob alle Blumen des Sommers sich vereint hätten, um mit
den hellen Glocken ihrer bunten Kelche den lieblichen Festtag
einer Heimkehr ans der Fremde einzuläuten. Ja, es zog den
Professor mit muviderstehlichcr, süßer Gewalt heim, und er folgte
diesem Zuge. Heimwärts in das Reich schöner, edler, beseligender
Gefühle, von welchem ihn bis jetzt kalte, nüchterne, herzlose
Berechnung und trockene Vcrstandcsthätigkeit fern gehalten hatte»;
heimwärts in das eigene, ursprünglich so schön und edel angelegte
Herz, dessen bessere Regungen so lange von gelehrtem Unkraut über-
wuchert, aber glücklicherweise noch nicht erstickt waren; heimwärts
ans düsterer Einsamkeit in den Kreis froher Mitmenschen; heim-
wärts aus dem Bann des Dünkels, des Stolzes und der Verdrossen-
heit zu dem Zauber der Freude, der Güte, des Mitgefühls!
„Es wollen die Blume» mit ihrem Schein der lieblichsten
Zeiten Herold sein!" so scholl cs >vic jauchzend und frohlockend