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Die Hauptkirche Beatae Mariae Virginis in Wolfenbüttel — Forschungen der Denkmalpflege in Niedersachsen, Band 4: Hameln: Verlag C.W. Niemeyer, 1987

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HERMANN KUHR

Nachbarschaft, etwa am Roten Amte, das Dorf
Lechede mit der Pfarrkirche St. Stephanus lag, muß
man damit rechnen, daß Wolfenbüttel nur aus
einem befestigten Gehöft oder einer bescheidenen
Burg bestand, von der erstmals im Bericht über ihre
Zerstörung im Jahr 1191 durch Herzog Heinrich
den Löwen die Rede ist. Bei der dürftigen Quellen-
lage gibt es keine Anhaltspunkte dafür, ob für die
Gründung der Marienkapelle schon vor dem 13.
Jahrhundert Voraussetzungen bestanden.
Mit Gunzelin von Wolfenbüttel, der unter den
Kaisern Otto IV. und Friedrich II. Reichstruchseß
war, erlangten die Herren von Wolfenbüttel grö-
ßere Bedeutung. So ist nicht auszuschließen, daß
die Marienkapelle von ihm in der ersten Hälfte des
13. Jahrhunderts gestiftet worden ist. Der Bau der
Asseburg im Jahr 1218, nach der sich das Ge-
schlecht in der Folgezeit nannte, müßte dem nicht
widersprechen. Da mit der Gründung einer Ka-
pelle ein Stiftungsvermögen beschafft werden
mußte, ist es wohl nicht ganz abwegig, Gunzelin
als Stifter in Erwägung zu ziehen, der wie so viele
andere seinesgleichen gute Gründe gehabt haben
mag, damit seine Macht und Selbsteinschätzung zu
dokumentieren.
Möglicherweise verdankt die Marienkapelle ihre
Gründung in dieser oder einer späteren Zeit dem
ganz schlichten Bedürfnis, für einen Begräbnis-
platz, der mit Bedacht außerhalb des Ortes Le-
chede und etwas abgerückt von der Burg angelegt
war, einen Raum für den Gottesdienst und für die
Fürbitte für die Verstorbenen zu schaffen. Jeden-
falls ist der Platz so gewählt, daß er noch viel später
als Friedhof dienen konnte, während die Voraus-
setzungen für ein stabiles Fundament denkbar
schlecht waren.
Im Jahre 1255 wurde Wolfenbüttel abermals von
den Herzögen erobert und ging in deren Besitz
über. Herzog Heinrich der Wunderliche baute die
Burg im Jahr 1283 als Wasserburg aus. Bald darauf,
im bereits genannten Jahr 1301, erfahren wir vom
Bestehen der Marienkapelle durch den Tauschver-
trag, den der Inhaber der Kaplanei, Herr Herde-
gen, „rector capellae sanctae Mariae in Wlfer-
butle“,5) mit dem Herzog abschloß. Dem Herzog
Albrecht überließ Herdegen von den Gütern der
Marienkapelle, aus denen er seine Einkünfte bezog,
rund 120 Morgen Land in Wolfenbüttel und
tauschte dagegen ein Gehöft mit 90 Morgen Land
in Groß Denkte und jährlich drei Lieferungen ge-
mahlenen Weizens aus der Burgmühle in Braun-
schweig ein. Bermerkenswert ist, daß die Marien-
kapelle ein so verhältnismäßig großes Stiftungsver-
mögen besaß. Manche ländliche Pfarrkirche war
geringer dotiert.
Das gibt zu der Überlegung Anlaß, die Marien-
kapelle könnte im Zusammenhang mit dem Aus-
bau der Burg Wolfenbüttel gegen Ende des 13.

Jahrhunderts in der Absicht gestiftet worden sein,
sie für eine geplante Ansiedlung in der direkten
Nachbarschaft der Burg als Gotteshaus zu errich-
ten, falls sie aber schon bestanden haben sollte, sie
so auszustatten, daß sie über kurz oder lang zur
Pfarrkirche erhoben werden könnte. So sehr alle
Rückschlüsse in Frage gestellt bleiben müssen, läßt
sich doch zu Beginn des 14. Jahrhunderts der Wille
erkennen, die Burg Wolfenbüttel bewohnbar zu
machen und zu ihrer Versorgung die Vorausset-
zungen für einen Ort mit eigener Pfarrkirche zu
schaffen. Das Tauschgeschäft spricht dafür, daß
derartige Pläne verwirklicht werden sollten.
In diesem Zusammenhang ist es auffällig, daß zu
Herdegens Nachfolger als Kaplan und Rektor der
Marienkapelle zwischen 1304 und 1315 ein Mann
von bemerkenswerten Qualitäten berufen wird. Es
ist Reimbold von Geysmar, der von 1301 bis zu sei-
nem Tod im Jahr 1351 als Pfarrer von St. Kathari-
nen in Braunschweig amtierte. Bedeutet die Beleh-
nung eines auswärtigen Geistlichen sicher eine Ge-
fährdung des Gottesdienstes für die Marienkapelle,
so kommt andererseits damit zum Ausdruck, daß
Herzog Albrecht einen Mann an sich binden
wollte, der ihm unschätzbare Dienste leisten
konnte. Reimbold war ein gelehrter Mann. Als
Scholaster des Stifts St. Blasius in Braunschweig
war ihm die Erziehung der Prinzen anvertraut.
Diese dankten es ihrem Lehrer neben manch ande-
rer Gunst dadurch, daß sie ihm im Jahr 1322 die
Einkünfte der Marienkapelle für ein Gnadenjahr
gewährten. Sicher häufiger als es in den Urkunden
belegt ist, hat Reimbold seine Begabungen und
Kenntnisse in Verwaltungs- und Rechtsgeschäften
in den Dienst der Herzöge gestellt. Daß er bei eini-
gen schwierigen Vergleichsverhandlungen zugegen
war, beweist sein diplomatisches Geschick.6) In
einer Zeit also, da die Herzöge noch keine zentrale
Verwaltung herausgebildet hatten, bedienten sie
sich für ihre weltlichen Aufgaben und, soweit das
möglich war — etwa durch fromme Stiftungen —
auch für ihre kirchenpolitischen Absichten des Ra-
tes hervorragender Geistlicher. Reimbold war
nicht der einzige und er hat auch anderen welt-
lichen und geistlichen Herren mit seinem Rat zur
Seite gestanden. Bemerkenswert ist, daß Reim-
bolds Funktion als Ratgeber mit dem Amt als Hof-
kaplan verbunden war, wofür er mit der Marien-
kapelle in Wolfenbüttel belehnt wurde. Obwohl
Wolfenbüttel damals noch nicht ständige Residenz
der Herzöge war, wurde mit der Stiftung der
Longinuskapelle auf dem Damm bei der Burg Wol-
fenbüttel im Jahr 1315 die Stelle für einen zweiten
Kaplan geschaffen oder, sofern diese Kapelle schon
bestanden haben sollte, so reichlich ausgestattet,
daß der zweite Kaplan davon leben konnte. Da
Reimbold als erster Zeuge bei dieser Stiftung auf-
tritt, darf man wohl davon ausgehen, daß die An-

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