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Die Hauptkirche Beatae Mariae Virginis in Wolfenbüttel — Forschungen der Denkmalpflege in Niedersachsen, Band 4: Hameln: Verlag C.W. Niemeyer, 1987

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Wolfgang Kelsch

Alle Kreatur der Welt
Mythos und Wissenschaft am Chor
der Hauptkirche Beatae Mariae Virginis

Omnis mundi creatura
quasi Über et pictura
nobis est et speculum.
Alle Kreatur der Welt
ist wie ein Buch oder Bild,
für uns auch ein Spiegel.
Alanus ab insulis,
Scholastiker, 12. Jahrhundert
Die Hauptkirche Beatae Mariae Virginis (BMV)
in Wolfenbüttel ist als erster großer Kirchenbau
des Protestantismus aus mehreren Gründen von
besonderer Bedeutung. Als Werk des Baumeisters
Paul Francke (1537/38—1615) nimmt sie die Tradi-
tion mittelalterlicher Hallenkirchen auf und ver-
körpert als Predigt- und Abendmahlskirche prote-
stantische Baugesinnung des 17. Jahrhunderts. Mit
dem Rückgriff auf gotische Bautradition ist sie
durch ihre reiche Ornamentik an den Giebeln und
Fenstern, die das gotische Gerüst überlagern, als
markantes Beispiel des manieristischen Stils in der
Kunstwissenschaft gewürdigt. Als Hofkirche des
welfischen Fürstenhauses repräsentiert sie den
frühabsolutistischen Herrschaftswillen der Her-
zöge zu Braunschweig und Lüneburg, die mit die-
sem Bau ihrer seit 1570 geplanten neugeschaffenen
Residenz „Heinrichstadt“ mit ihren neuen Verwal-
tungsgebäuden, Wohn- und Handelshäusern den
beherrschenden Akzent setzen wollten. Georg
Dehio hat in seiner „Geschichte der Deutschen
Kunst“ die Bedeutung dieser Kirche erfaßt, wenn
er sie als das „einzige künstlerisch großgedachte
Kirchengebäude des Protestantismus“ charakteri-
siert.
Als Mittelpunkt der neugeschaffenen Residenz,
die durch ihre planmäßige Straßenführung die
theoretischen Ideen der Städteplaner der Renais-
sance als erste Renaissancestadt in Deutschland
verwirklichte und durch mächtige Befestigungs-
werke gesichert wurde, entsprach die Hofkirche
mit einer Länge von 70 Metern und einem geplan-

ten (nicht vollendeten) Turm von 84 Metern dem
Herrschaftsverständnis des von 1589 — 1613 regie-
renden kunstsinnigen und hochgebildeten Her-
zogs Heinrich Julius, der als Summus episcopus
seine landesherrliche Gewalt auch in der seit 1568
bestehenden evangelischen Landeskirche doku-
mentieren wollte. Wenn sie zugleich als Grablege
des regierenden Weifenhauses gedacht war, ent-
sprach dies der Tradition der seit dem 14. Jahrhun-
dert bestehenden Marienkapelle an gleicher Stelle,
die Herzog Heinrich d.J. (1514—1568) bereits um
die Mitte des 16. Jahrhunderts als Erbbegräbnis für
seine Familie bestimmt hatte. In der — heute nicht
mehr zugänglichen — Gruft dieser Kapelle wurden
bereits 1553 die beiden in der Schlacht von Sievers-
hausen gefallenen Prinzen Karl Viktor und Philipp
Magnus beigesetzt. Hier fand auch ihr Vater Her-
zog Heinrich d.J. nach einem unruhigen, von krie-
gerischen Auseinandersetzungen erfüllten Leben
seine letzte Ruhestätte. Die Wahl einer neuen fürst-
lichen Grablege in dem Neubau war auch durch die
Haltung der „widerspenstigen und unbotmäßigen“
Stadt Braunschweig bedingt, die sich trotzig den
Herrschaftsansprüchen der Herzöge widersetzte.
Wiederholte Schändungen der herzoglichen Fami-
liengräber während dieser Auseinandersetzungen
hatten den Haß Herzogs Heinrichs d.J. noch ge-
steigert.
Der Neubau der repräsentativen Hofkirche in
der Mitte der neuen Residenz „Heinrichstadt“ mit
ihren mächtigen Befestigungsanlagen dokumen-
tierte den Herrschaftswillen der Herzöge gegen-
über der aufsässigen verhaßten Hansestadt.
Der herzogliche Baumeister Paul Francke stand
vor einer schwierigen Aufgabe, wenn er eine Pre-
digt- und Abendmahlskirche zur Verkündigung
des evangelischen Glaubens für die Gemeinde der
neuen „Heinrichstadt“ konzipieren sollte, die zu-
gleich den Wunsch nach fürstlicher Repräsentation
erfüllte, zumal es Kirchenbauten dieser Größe, die

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