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Die Hauptkirche Beatae Mariae Virginis in Wolfenbüttel — Forschungen der Denkmalpflege in Niedersachsen, Band 4: Hameln: Verlag C.W. Niemeyer, 1987

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HÄRMEN THIES

ist, bildet das Nordseitenportal ein leicht nach
links, also östlich vom Schwerpunkt des ganzen
verschobenes Gegengewicht zu dem mächtig ra-
genden Westturm rechts. Die fünf Zwerchgiebel
sind vom Entwurf demnach noch nicht zu einer
eigenständigen, in sich zentrierten Gruppe erklärt,
sondern bleiben deutlicher als heute ihrem „Leit-
giebel“ auf der Querhausfront „angekoppelt“. Die
Fügung von Turm, Zwerchgiebelreihe, Portalan-
lage, Querhaus und Chorpolygon als Element
eines, sorgfältig gewichteten Fassadenbildes wirkt
auf dem Holwein-Stich schlüssiger als in der Aus-
führung.
Im übrigen stimmen Entwurf und Ausführung
weitgehend überein. Es genügt, Anordnung und
Zeichnung der Lanzett-Rahmen-Fenster und der
Strebe- und Figurenpfeiler auf dem Stich mit der
baulichen Realisierung zu vergleichen und das
Fehlen der für den Maßstab und die Fügung der
Elemente nicht unwichtigen Dachgauben als
schlichtes Weglassen und nicht etwa als Umstoßen
des Entwurfskonzeptes zu registrieren. Auch die
36 Architektur des Nordquerhausgiebels und des
32 Nordseitenportales folgt grundsätzlich dem von
Francke vorgezeichneten und durch Holwein
überlieferten Muster. Die Disposition der Teile,
vor allem die Anordnung und Ausformung der
Säulen und Gebälke erscheinen identisch. Aus-
drücklich sei auf die vor Nischen gestellten Posta-
mentsäulen und die aus dem Gebälkaufbau selbst
entwickelten Ädikulaverdachungen mit ihren
Tympanon-Kartuschen hingewiesen. Nur anhand
bildnerischer Details, dem anders gerollten Volu-
tenwerk der Giebelstufen etwa und dem Fehlen der
drei Standfiguren auf dem Seitenportal, sind Ent-
wurf und Ausführung zu unterscheiden.
Schon mit den nächsten drei Zwerchgiebeln je-
doch sollten sich dann Ausführungsvarianten
durchsetzen, die den „Giebelbau“ in der Folge
immer weiter vom Ursprungsentwurf entfernten.
Flankierende Freisäulen suchen größere Nähe zum
38 Leitgiebel der Querhausfront; die ionischen Her-
39 menpilaster des Entwurfes sind zwar realisiert,
40 doch rücken sie zum Aufbau zentraler, jetzt Fen-
ster, nicht Nischen rahmender Ädikulen zusam-
men und erscheinen gegenüber dem Muster Fran-
ckes kleinteilig zerstückt. Das hier eingeleitete
Sich-Frei-Machen von den Bindungen des Ent-
wurfes sollte in der Folge nur noch zunehmen.
19 Der Holwein-Holzschnitt nach Franckes Turm-
und Westfrontentwurf erweist zunächst, ähnlich
wie die Ansichten der Nordlangseite und des Hal-
leninneren, seine grundsätzliche Gültigkeit und
Verbindlichkeit für die Ausführung. Gleichzeitig
jedoch sind auch hier erhebliche Abweichungen zu
beobachten, die nicht allein durch das frühe Lie-
genlassen des weiteren Turmbaus, den Verzicht auf
den achtseitigen Schaft, den weit auskragenden,

konsolengestützten Umgang, das Helmgeschoß
und durch das Aufsetzen eines „provisorischen“,
dann über hundert Jahre das Bild bestimmenden
Notdaches (1625) zu erklären sind. Während das
Westportal — abgesehen von der Umstellung des
Figurenprogramms und dem, wohl von Setzungen
veranlaßt, Ausstellen des Ädikula-Aufsatzes durch
drei Zusatzsäulen — weitgehend der Francke-
Zeichnung folgt, zeigt die Turmansicht Holweins
ein erheblich breiteres, statt drei- vierbahniges
Lanzett-Rahmen Fenster, das mit seiner doppelten
Rahmung in der Breite des realisierten Portales
ansetzt und in Einheit mit dem ähnlich breit und
doppelt gefaßten, jetzt allerdings auf eine Posta-
menttafel gesetzten und in zwei breite Bahnen zer-
legten Turmfenster gesehen werden will. So ist in
der Turmfront eine zweite Frontfigur aufgebaut,
die den Turm selbst rasch und schlank steigen läßt.
Das geschoßteilende Turmgesims entspricht dem
Hauptgebälk der Halle, verzichtet aber auf die
Friesleiste, bietet weniger Widerstand und setzt
sich so von der alles gürtenden Horizontale dieses
Gebälkes nicht in der Lage, wohl aber in der Profi-
lierung deutlich ab. Der Anstieg des Turmes wird
von zwei Wandbahnen begleitet und unterstützt,
hinter denen — die Pforten und Fenster zeigen es —
Wendeltreppen zu denken sind. So ist ihm eine
doppelte Basis gegeben, aus der er in Stufen frei
wird: zum einen die Westfront als Ganzes, von den
übereck gestellten Strebepfeilern gefaßt und mit
dem Hauptgebälk, den Lanzett-Rahmen-Fenstern
und diesen Pfeilern als Teil der Hallen-Architektur
zu erkennen; zum anderen der Wandblock mit den
Wendeltreppen, dessen Grenzen unten durch die
Rahmenpfosten der Seitenschiffsfenster, oben
durch die Giebel-Pilaster dargestellt werden, die
mit den Achsen der Fensterpfosten korrespondie-
ren. Diese „zweite Turmbasis“ übergreift zwar die
Horizontale des Hallenhauptgebälkes; dennoch
bleibt sie ein Teilstück des Frontmauerwerks. So
gehört sie ebenso zum Turm wie zur Hallenfront
und ist als Mittler zwischen diesen beiden „Einhei-
ten“, als Mittler auch zwischen ihren Eigenschaften
zu begreifen, dem lagernden Sich-Breiten der ge-
räumigen Halle hier und dem auf die Standachse
sich konzentrierenden Steigen des Turmes dort.
In der Ausführung ist dieses vielschichtig-kom-
plexe Spiel der turmbildenden Komponenten zu-
gunsten der Vorherrschaft des Lagerns und In-die-
Breite-Bindens ersetzt. Das jetzt mit dem Bank-
sockel identische Basisprofil, das Hauptgebälk und
die von den Strebepfeilern übernommene „Schaft-
bandage“ des Turmes, das Fehlen der Treppen-
spindel auf seiner Nordseite und damit der Ver-
zicht auf die, für die vermittelnde „Blockfront“
konstitutive Pforten-Fenster-Achse zeigen es.
Gleichzeitig ist festzuhalten, daß die Volutenfül-
lungen der „Halbgiebel“ mit ihren Beschlagwerks-

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