HÄRMEN THIES
jedem Systemvergleich. Sie bleibt wesentlich an die
Individualität des Entwerfenden, an die Manier
Paul Franckes gebunden. In diesem Sinne dann
mag auch die Wolfenbütteier Marienkirche als ein
Exempel manieristischer Architektur gelten; nicht,
weil sie etablierte, allgemein gültige, ja „klassische“
Regeln — der deutschen Architektur des 16. Jahr-
hunderts nach Dürer ohnehin fremd — nur auf-
greift, um sie sogleich in Frage oder gar auf den
Kopf zu stellen und so die allgemeine, das 16. Jahr-
hundert prägende Krisis aller „äußeren“ Ordnun-
gen abermals zu demonstrieren, sondern weil diese
Architektur wesentlich die Handschrift (Manier)
Paul Franckes trägt. Ist sie doch einer „freien“, nur
individuell zu bestimmenden Gesetzmäßigkeit un-
terworfen, die allein im Umkreis seines, ja dieses
Werkes gilt. Die Realisierung einer unabhängig
von konventionellen, „äußeren“ Regeln aus freier
Setzung und Entgegensetzung die Momente ihres
Aufbaus gleichsam selbst bestimmenden Architek-
tur war aber eine der großen, epochemachenden
Leistungen Michelangelos. Architektur nach sei-
nem Vorbild, seiner maniera, die ebenso nur dem
Gesetz des eigenen Aufbaus folgte wie sie sich den
starren „Regelungen“ durch das damals kodifi-
zierte System der Säulenordnungen zu entziehen
wußte — nicht durch Ablehnung, sondern durch
lebendige, immer neue Verwandlung — diese Ar-
chitektur wird im engeren und genaueren Sinne als
die des Manierismus gelten dürfen. Von daher ließe
sich allenfalls das Moment der „Eigengesetzlich-
keit“ auf den Entwurf Franckes übertragen, nicht
dagegen der für die manieristische Architektur des
Südens konstitutive, ebenso bewußte wie freie
Umgang mit den Ordnungen.
Ein entscheidender Unterschied gegenüber ver-
gleichbaren Bauten der Zeit ist dadurch gegeben,
daß hier kubisch-klare Grundformen den Aufbau
der Baukörper und Räume beherrschen und diese
Fügung konstitutiver „Einheiten“ mit architekto-
nischen Gliedfiguren kombiniert, ja „ausgestattet“
wird (Portalen, Fenstern, Giebeln usw.), die ihrer-
seits als in sich geschlossene „Einheiten“, als Ele-
mente des Entwerfens und Bauens zu erkennen
sind. Weder die nahezu gleichzeitig und ebenfalls
als protestantische Predigtkirche 1607 begonnene,
1618 geweihte und ausdrücklich zum „Trutz-
Michael“ (gegen die Jesuitenkirche St. Michael in
München) erklärte Hofkirche in Neuburg a. d. Do-
nau, die nach dem Tode des Bauherrn Pfalzgraf
Philipp Ludwig 1614 von seinem zum Katholizis-
mus konvertierten Nachfolger just den Jesuiten
übergeben wurde, noch die 1610—1615 erbaute
protestantische Stadtkirche in Bückeburg lassen
sich in dieser Hinsicht mit der Marienkirche
Franckes vergleichen.24) Das gilt noch mehr für
einige Kirchenbauten der Jesuiten, die im frühen
17. Jahrhundert nicht nur Einzelheiten, sondern
offensichtlich „das Ganze“ einer nach Anlage- und
Aufbauschema gotischen Architektur zu ihrem
Muster erklärt hatten.25-1
Das Konzipieren in kantig-großflächig begrenz-
ten Einheiten war allerdings auch schon der späten
Gotik Deutschlands geläufig. Die mächtigen Hal-
lenkörper großer Stadtpfarrkirchen des 15. und
frühen 16. Jahrhunderts mit ihren „eingestellten“
Pfeilern und Netzgewölben können deswegen aus
gutem Grund zu den Ahnen der Marienkirche ge-
zählt werden. Wie die frühe „Modernisierung“ der
Katharinenkirche in Augsburg etwa zeigt, brauch-
ten nur wenige Details (Basen, Kapitelle, Gurte
und Rippen) „ausgewechselt“ zu werden, um einer
— in diesem Fall zweischiffigen — Halle der Gotik
die äußeren Züge der Renaissance zu verleihen.261
Das Wesentliche aber des neuen Stils, das Ausbil-
den architektonischer „Einheiten“ als individuell-
eigenständiger, in sich „ganzer“, figurenähnlicher
Träger des Aufbaus und der Fügung — in Italien
waren es elementare Figurationen aus Ordnungs-
Elementen — war hier, abgesehen von den genann-
ten Details, noch nicht verwirklicht. Man wird sich
sogar fragen müssen, ob es angestrebt war. Denn
obwohl die italienische Architektur der Ordnun-
gen frühzeitig bekannt wurde und umfassende
Lehr- und Bildwerke neben speziellen Säulen-Bü-
chern die Einzelheiten und das System dieser Ar-
chitektur allgemein verbreitet hatten, sollten — ab-
gesehen von vereinzelten Ausnahmen — erst im
frühen 17. Jahrhundert Bauten entstehen, die in di-
rekter Auseinandersetzung mit dem italienischen
Vorbild entworfen wurden.271 Bis dahin war sie auf
die Ausbildung von Einzelformen und architekto-
nischen Sonderstücken beschränkt geblieben; erin-
nert sei noch einmal an das Beispiel der „für sich“
entworfenen Portale und Giebel der Marienkirche.
Die deutsche Architektur des 16. und frühen 17.
Jahrhunderts ist demnach keine Architektur der
Ordnungen; sie deswegen Renaissance-Architek-
tur zu nennen, wäre verfehlt. Erst das Ausbilden
distinkter „Einheiten“, das Zerlegen übergreifen-
der, gotischer Formzusammenhänge in ein irritie-
rendes Stückwerk vielfältig gemischter, gehäuft
wirkender Einzelformen, die Entwurfsmethode
des Elementierens und „freien“, individuellen Fü-
gens und Kombinierens kennzeichnet sie als eine
Architektur der Renaissance. Denn diese Methode
war auch für Italien und dort für die Ausbildung
des Systems der Ordnungen entscheidend gewor-
den; sie ist es, die das europäische Entwerfen und
Bauen des 16. Jahrhunderts als ein vielgliedrig
Ganzes, als reiche Entfaltung ein und derselben
Renaissance begreifen läßt; einer Renaissance we-
niger der antikrömischen Formen als eines syste-
matischen, bewußt rationalisierten Entwerfens.
Vor diesem Hintergrund ist die Architektur Paul
Franckes einer Entwicklung zuzuordnen, die mit
76
jedem Systemvergleich. Sie bleibt wesentlich an die
Individualität des Entwerfenden, an die Manier
Paul Franckes gebunden. In diesem Sinne dann
mag auch die Wolfenbütteier Marienkirche als ein
Exempel manieristischer Architektur gelten; nicht,
weil sie etablierte, allgemein gültige, ja „klassische“
Regeln — der deutschen Architektur des 16. Jahr-
hunderts nach Dürer ohnehin fremd — nur auf-
greift, um sie sogleich in Frage oder gar auf den
Kopf zu stellen und so die allgemeine, das 16. Jahr-
hundert prägende Krisis aller „äußeren“ Ordnun-
gen abermals zu demonstrieren, sondern weil diese
Architektur wesentlich die Handschrift (Manier)
Paul Franckes trägt. Ist sie doch einer „freien“, nur
individuell zu bestimmenden Gesetzmäßigkeit un-
terworfen, die allein im Umkreis seines, ja dieses
Werkes gilt. Die Realisierung einer unabhängig
von konventionellen, „äußeren“ Regeln aus freier
Setzung und Entgegensetzung die Momente ihres
Aufbaus gleichsam selbst bestimmenden Architek-
tur war aber eine der großen, epochemachenden
Leistungen Michelangelos. Architektur nach sei-
nem Vorbild, seiner maniera, die ebenso nur dem
Gesetz des eigenen Aufbaus folgte wie sie sich den
starren „Regelungen“ durch das damals kodifi-
zierte System der Säulenordnungen zu entziehen
wußte — nicht durch Ablehnung, sondern durch
lebendige, immer neue Verwandlung — diese Ar-
chitektur wird im engeren und genaueren Sinne als
die des Manierismus gelten dürfen. Von daher ließe
sich allenfalls das Moment der „Eigengesetzlich-
keit“ auf den Entwurf Franckes übertragen, nicht
dagegen der für die manieristische Architektur des
Südens konstitutive, ebenso bewußte wie freie
Umgang mit den Ordnungen.
Ein entscheidender Unterschied gegenüber ver-
gleichbaren Bauten der Zeit ist dadurch gegeben,
daß hier kubisch-klare Grundformen den Aufbau
der Baukörper und Räume beherrschen und diese
Fügung konstitutiver „Einheiten“ mit architekto-
nischen Gliedfiguren kombiniert, ja „ausgestattet“
wird (Portalen, Fenstern, Giebeln usw.), die ihrer-
seits als in sich geschlossene „Einheiten“, als Ele-
mente des Entwerfens und Bauens zu erkennen
sind. Weder die nahezu gleichzeitig und ebenfalls
als protestantische Predigtkirche 1607 begonnene,
1618 geweihte und ausdrücklich zum „Trutz-
Michael“ (gegen die Jesuitenkirche St. Michael in
München) erklärte Hofkirche in Neuburg a. d. Do-
nau, die nach dem Tode des Bauherrn Pfalzgraf
Philipp Ludwig 1614 von seinem zum Katholizis-
mus konvertierten Nachfolger just den Jesuiten
übergeben wurde, noch die 1610—1615 erbaute
protestantische Stadtkirche in Bückeburg lassen
sich in dieser Hinsicht mit der Marienkirche
Franckes vergleichen.24) Das gilt noch mehr für
einige Kirchenbauten der Jesuiten, die im frühen
17. Jahrhundert nicht nur Einzelheiten, sondern
offensichtlich „das Ganze“ einer nach Anlage- und
Aufbauschema gotischen Architektur zu ihrem
Muster erklärt hatten.25-1
Das Konzipieren in kantig-großflächig begrenz-
ten Einheiten war allerdings auch schon der späten
Gotik Deutschlands geläufig. Die mächtigen Hal-
lenkörper großer Stadtpfarrkirchen des 15. und
frühen 16. Jahrhunderts mit ihren „eingestellten“
Pfeilern und Netzgewölben können deswegen aus
gutem Grund zu den Ahnen der Marienkirche ge-
zählt werden. Wie die frühe „Modernisierung“ der
Katharinenkirche in Augsburg etwa zeigt, brauch-
ten nur wenige Details (Basen, Kapitelle, Gurte
und Rippen) „ausgewechselt“ zu werden, um einer
— in diesem Fall zweischiffigen — Halle der Gotik
die äußeren Züge der Renaissance zu verleihen.261
Das Wesentliche aber des neuen Stils, das Ausbil-
den architektonischer „Einheiten“ als individuell-
eigenständiger, in sich „ganzer“, figurenähnlicher
Träger des Aufbaus und der Fügung — in Italien
waren es elementare Figurationen aus Ordnungs-
Elementen — war hier, abgesehen von den genann-
ten Details, noch nicht verwirklicht. Man wird sich
sogar fragen müssen, ob es angestrebt war. Denn
obwohl die italienische Architektur der Ordnun-
gen frühzeitig bekannt wurde und umfassende
Lehr- und Bildwerke neben speziellen Säulen-Bü-
chern die Einzelheiten und das System dieser Ar-
chitektur allgemein verbreitet hatten, sollten — ab-
gesehen von vereinzelten Ausnahmen — erst im
frühen 17. Jahrhundert Bauten entstehen, die in di-
rekter Auseinandersetzung mit dem italienischen
Vorbild entworfen wurden.271 Bis dahin war sie auf
die Ausbildung von Einzelformen und architekto-
nischen Sonderstücken beschränkt geblieben; erin-
nert sei noch einmal an das Beispiel der „für sich“
entworfenen Portale und Giebel der Marienkirche.
Die deutsche Architektur des 16. und frühen 17.
Jahrhunderts ist demnach keine Architektur der
Ordnungen; sie deswegen Renaissance-Architek-
tur zu nennen, wäre verfehlt. Erst das Ausbilden
distinkter „Einheiten“, das Zerlegen übergreifen-
der, gotischer Formzusammenhänge in ein irritie-
rendes Stückwerk vielfältig gemischter, gehäuft
wirkender Einzelformen, die Entwurfsmethode
des Elementierens und „freien“, individuellen Fü-
gens und Kombinierens kennzeichnet sie als eine
Architektur der Renaissance. Denn diese Methode
war auch für Italien und dort für die Ausbildung
des Systems der Ordnungen entscheidend gewor-
den; sie ist es, die das europäische Entwerfen und
Bauen des 16. Jahrhunderts als ein vielgliedrig
Ganzes, als reiche Entfaltung ein und derselben
Renaissance begreifen läßt; einer Renaissance we-
niger der antikrömischen Formen als eines syste-
matischen, bewußt rationalisierten Entwerfens.
Vor diesem Hintergrund ist die Architektur Paul
Franckes einer Entwicklung zuzuordnen, die mit
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