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Die Hauptkirche Beatae Mariae Virginis in Wolfenbüttel — Forschungen der Denkmalpflege in Niedersachsen, Band 4: Hameln: Verlag C.W. Niemeyer, 1987

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MYTHOS UND WISSENSCHAFT AM CHOR

zum Teil hervorragender künstlerischer Gestal-
tung erscheinen, schwieriger, weil die ihnen zuge-
schriebene Bedeutung verflacht oder völlig verges-
sen ist.
Der Kranich mit der Kugel oder dem Stein in
der Kralle erscheint in jedem Emblembuch des 17.
Jahrhunderts und wird in den Tierbüchern als
Symbol der Wachsamkeit gedeutet. Die antike
Sage, die sich durch das Mittelalter erhalten hat, be-
richtet, daß der kluge Kranich beim Überfliegen
des Taurusgebirges sich vor den verfolgenden
Adlern schützen mußte und, um wach zu bleiben,
einen Stein in der Kralle mitführte, um sich vor dem
Einschlafen während des Flugs zu schützen. Da der
Kranich wie der Storch ein Schlangenfresser ist, die
Schlange aber als Abbild des Teufels gilt, werden
Storch und Kranich — wie alle verwandten Tiere —
Christussymbole, da Christus im Kampf gegen den
Teufel die Pforten der Hölle gesprengt hat. Auch
Gesners Historia animalium zeigt die Langschnä-
bel als Schlangenvertilger oder Vernichter der gifti-
gen Kröte, die gleichfalls als teuflisches Wesen gilt.
Der Theologe Frey nimmt in seiner Therobiblia
diese volkstümliche Interpretation auf und erklärt
sie biblisch.
Auffallend ist die große Zahl der Quader am
Chor mit Darstellungen von Tierköpfen mit Lang-
schnäbeln, bei denen die Gestaltungsfreude der
Steinmetzen deutlich erkennbar ist. Trotz mancher
Ähnlichkeiten werden diese Langschnäbel in skur-
rilen Variationen wiedergegeben, weil das Motiv
zur verfremdenden, grotesken oder phantastisch-
unheimlichen Gestaltung reizt, die dem manieristi-
schen Kunstempfinden eigen ist. Für diese Arbei-
ten scheint Konrad Gesners Tierbuch direkte An-
regungen gegeben zu haben. Gesners Darstellung
ist für seine Arbeitsmethode bezeichnend und für
die Schwierigkeiten, mit denen er sich in dieser
ersten systematischen Darstellung der Tierwelt
auseinanderzusetzen hat. Da er die unterschied-
lichen exotischen Tierarten aus eigener Kenntnis
nicht unterscheiden kann, begnügt er sich — außer
den Darstellungen des ihm bekannten Storchs und
Kranichs — mit der Wiedergabe phantastisch an-
mutender Köpfe von Langschnäbeln, ohne be-
stimmte Arten oder Familien zu nennen. In der
emblematischen Literatur erscheinen auch oft noch
Eisvögel und Meerschwalben, die eine feste, heute
vergessene emblematische Bedeutung aufgrund
alter Legenden und Berichte haben.1>} Die im 17.
Jahrhundert jedem Gebildeten bekannte sinnbild-
liche Bedeutung dieser Langschnäbel als Teufels-
vertilger und Christussymbole scheinen mit ihren
Möglichkeiten zur skurrilen Verfremdung die
Steinmetzen besonders zur künslenschen Gestal-
tung angeregt zu haben. Einige reliefierte Quader
sind von hervorragender künstlerischer Qualität
und eindrucksvoller Bildkraft.

Der „Baumkletterer“ als christliches Symbol?
Unter den 390 reliefierten Quadern fällt die Dar-
stellung eines menschlichen „Baumkletterers“ auf,
für die sich keine Variante findet. Obwohl dieses
Motiv auch in der mittelalterlichen Buchmalerei er-
scheint,30-1 läßt sich keine Deutung finden. Einen
Zusammenhang aus der Tradition mittelalterlicher
Buchmalerei anzunehmen, erscheint fragwürdig.
Eine biblische oder aus der christlichen Legende
abgeleitete Deutung ist nicht möglich. Es bleibt
offen, ob für diesen Baumkletterer des 17. Jahrhun-
derts die mögliche, sehr hypothetische Erklärung
für das gleiche Motiv in der mittelalterlichen Buch-
malerei gilt, die in dem Kletterer ein Symbol der
nach oben strebenden menschlichen Seele erken-
nen will oder ob sich bei dieser Gestaltung die hu-
morvolle Phantasie eines bearbeitenden Steinmet-
zen durchgesetzt hat. Auch wenn die Bearbeitung
der reliefierten Quader nicht der Laune der Stein-
metzen überlassen wurde und ein inhaltliches Ge-
samtprogramm zu erkennen ist, das von den Bau-
herren festgelegt wurde, haben sich für die Stein-
metzen doch Möglichkeiten ergeben, durch die
selbständige Gestaltung ihrer Vorlagen und deren
Umsetzung auf den Stein eigene Lösungen zu fin-
den. Dies zeigt sich auch bei den Menschengesich-
tern, die in großer Zahl am Chor zu finden sind,
und dürfte vielleicht ebenso für den „Baumklette-
rer“ zutreffen. Im Quaderschmuck der Hauptkir-
che zeigt sich das von Friedrich Thöne für den Ge-
samtbau festgestellte „Bewußt-Inkonsequente“,
das den eigenartigen Reiz des Gesamtbaus aus-
macht.

Alle Kreatur der Welt — Der Kosmos als
Imago dei
Es wäre abwegig, bei der Vielzahl der dargestell-
ten Tier- und Vogelwelt in jeder Darstellung be-
wußte Symbolbeziehungen zu erkennen. Gewiß
neigte man auch im 17. Jahrhundert dazu, jedem
Tier eine bestimmte emblematische Bedeutung zu-
zuschreiben, die in der Literatur in Beschreibungen
und Bildern, Zitaten und Sinnsprüchen festgelegt
wurde. Viele reliefierte Quader aber lassen auch er-
kennen, daß lediglich eine realistische Darstellung
einer bestimmten Tierart erreicht werden sollte.
An einer größeren Anzahl von Quadern lassen sich
bestimmte Vogelarten erkennen, neben den Gänse-
vögeln in vielerlei Variationen Adler, Falken und
Sperber, denen als Greif- und Raubvögel manche
menschlichen Eigenschaften zugesprochen wer-
den, daneben aber auch Amseln und Drosseln, Ra-
ben und Falken, Fasanen, Wachteln und Rebhüh-
ner, bei deren Darstellung die Freude an der realen
Wiedergabe deutlich erkennbar ist. An anderen
Reliefierungen sind diese Tiere durch die künstle-

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