Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Gailhabaud, Jules; Kugler, Franz [Hrsg.]
Jules Gailhabaud's Denkmäler der Baukunst (Band 4): Denkmäler der neueren Zeit — 1852

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3504#0115
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Die Kirche von Gisors.*)

Die kleine Stadt Gisors, an dem rechten Ufer der Epte auf dem halben Wege von Paris nach Rouen
gelegen, war ehemals die Hauptstadt des normannischen Vexin und Hauptort einer Herrschaft, der sie
ihren Namen gab. Sie bestand schon seit dem zehnten Jahrhundert, denn die Geschichtsschreiber er-
wähnen, dass sie im Jahre 940 von einer königlichen Domaine durch Ludwig II abgezweigt und dem
Herzog Wilhelm von der Normandie gegeben wurde; aber erst gegen das Ende des elften Jahrhunderts
fing sie an berühmt zu werden, als Wilhelm le Roux, Herzog von der Normandie, seine Gränze befestigen
wollte und nach den Plänen Robert de Belleme's, des berühmten Ingenieurs seiner Zeit, das Schloss
erbauen liess, dessen mächtige und malerische Ruinen man noch heute bewundert.

Im Jahre 1130 fand zu Gisors eine Zusammenkunft zwischen Heinrich I, König von England, und
dem Papste Calixtus II statt, der durch ein Schisma genöthigt war, sich in Frankreich aufzuhalten und
hier als Vermittler zur Beendigung des Krieges zwischen England und Frankreich auftrat. 1158 vereinigte
Ludwig der Jüngere Gisors wieder mit seinen Kronländern, aber drei Jahre später brachte seine Tochter
Margarethe diese Stadt als Mitgift dem Könige Heinrich II von England zu. Dieser letztere vermehrte
die Stärke des Schlosses, er vergrösserte es und nahm viele Reparaturen an demselben vor.

In der Nähe von Gisors fand auch 1188 auf die Nachricht von der Eroberung Jerusalems durch
Saladin die Zusammenkunft Philipp August's mit diesem selben Heinrich II statt, in Folge deren sich
Frankreich und England verbanden, um Palästina wieder den Saracenen zu entreissen. Nachdem Gisors
nach der Reihe den Grafen von Vexin, der Abtei Saint-Denis, den Herzogen von der Normandie, den
Königen von England und den Königen von Frankreich zugehört hatte, blieb es endlich definitiv im
Besitz der letzteren, in Folge des zwischen Philipp August und Richard Löwenherz im Jahre 1195 abge-
schlossenen Friedens.

Die Stadt Gisors enthält zwei Bauwerke von grossem Interesse, die Kirche und das Schloss; das
letztere, dessen Hauptmasse dem XII Jahrhundert angehört, ist eines der merkwürdigsten und wichtigsten
der Provinz. Es besteht aus einer mit Thürmen versehenen äusseren Ringmauer und aus einem auf einem
künstlichen Hügel sich erhebenden Donjon mit einer ihm zugehörigen zweiten Ringmauer. Die den heiligen
Gervasius und Protasius geweihte Kirche besass in alter Zeit drei Männer- und vier Frauenklöster und
war die einzige Pfarrkirche. Ihr Bau gehört zwei verschiedenen Epochen an: das Chor stammt aus dem
dreizehnten Jahrhundert, Schiff und Westfacade aus dem sechszehnten. Die letztere ist sehr reich und
gilt mit Recht für eine der schönsten des Renaissance-Styls; sie entbehrt indessen aller Symmetrie und
Einheit und besteht aus zwei verschiedenen Theilen, die wie durch Zufall und ohne künstlerische Absicht
verbunden zu sein scheinen, von denen keiner vollendet ist. Ohne Zweifel ist ein Theil der Westseite
später als der andere erbaut, doch bleibt die schiefe Stellung des angefangenen südlichen Thurmes
(m. s. den Grundriss) immer eine schwer zu erklärende Sonderbarkeit.

Das Portal der Kirche wird durch eine grosse Halbkreisbogen-Arcade gebildet, deren innere Oeffnung
kleiner als die äussere ist, oder — wie man sich in technischer Sprache ausdrücken würde — deren
Leibung eine Schmiege macht. In der Mitte der Thüröffnung steht ein mit einer Statue der Jungfrau
geschmückter Pfeiler. Ueber dieser Statue ist die Jesus Christi und in den Seitennischen die Davids
und Isais aufgestellt**) In dem Halbkreisbogenfelde der Arcade sieht man in einem Relief Jacobs Traum
dargestellt. Der Raum über dem Portale ist mit Sculpturen bedeckt, doch scheint es, als ob die hier
dargestellten Figuren keine religiöse Beziehung hätten. Als Krönung dient dem Portalbau ein kleiner
Porticus mit drei Arcaden, der zwar nicht unzierlich aber unmotivirt ist, und das grosse Fenster im west-
lichen Giebel des Schiffs verbirgt. In den beiden Strebepfeilern an den Ecken des Portalbaues befinden
sich Nischen zur Aufstellung von Heiligenfiguren, und die Spitzen dieser Strebepfeiler sind mit eben
solchen Figuren gekrönt.

Der nördliche Thurm ist recht zierlich. Das Stockwerk desselben, das die Glockenstube enthält, hat
an jeder Seite zwei schlanke Rundbogenfenster. Die Statuen, welche die Strebepfeiler dieses Stockwerks
schmücken, die Medaillons mit Köpfen und die Balustrade verleihen diesem Stockwerk ein recht maleri-
sches Aussehen. Das oberste Stockwerk des Thurmes ist achteckig; die Spitze desselben würde sich
aber der Form nach besser als Deckel für einen Kelch denn zur Krönung eines Thurmes eignen. Der
südliche Thurm, der so schlecht mit dem Uebrigen stimmt, ist ganz und gar im sogenannten klassischen

*) Auf einigen Abdrücken unserer Bildtafel ist die Kirche von Gisors irrthümlich Kathedrale genannt.
**) Unsere Bildtafel zeigt diese Statuen nicht. L. L.

Denkmäler der Baukunst. CXXXXIV. Lieferung.
 
Annotationen