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Gailhabaud, Jules; Kugler, Franz [Hrsg.]
Jules Gailhabaud's Denkmäler der Baukunst (Band 4): Denkmäler der neueren Zeit — 1852

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https://doi.org/10.11588/diglit.3504#0144
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Jesultenkirchen.

Die Kirche des Erlösers (del Redentore) in Venedig*).

Im Jahre 1576 wurde Venedig von einer furchtbaren Pest heimgesucht, die mehr als 40,000 Einwohner
hinweggerafft haben soll. Zur Zeit wo die Seuche ihren höchsten Grad erreicht hatte, machte der Senat
Venedigs das Gelöbniss, dass, wenn sie aufhören würde, er zum Dank eine Kirche dem redemptor mundi,
dem Welterlöser Christus zu Ehren erbauen wolle. Nach Beendigung der Seuche schritt die Republik
Venedig sogleich zur Ausführung ihres Versprechens; sie beauftragte den berühmten Architecten Palladio,
mit dem Entwürfe dieser Kirche unter der Bedingung, wie Scamozzi angiebt, dass ihre Architectur eine
einfache sei. Der Bauplatz, der für die Kirche gewählt wurde, war der Mittelpunkt einer kleinen Insel mit
Namen Spina-Lunga, die auch wohl den Beinamen Giudecca führte, weil auf ihr die ersten Juden bei ihrer
Einwanderung in die Lagunen sich niedergelassen hatten. Es gab damals auf dieser Insel nur eine kleine
den Kapuzinern zugehörige Capelle. Um der Wahl des Senats Ehre zu machen wendete Palladio der
Ausführung dieses Baues ganz besondere Sorgfalt zu, und förderte die Bauarbeiten so rasch, dass bei
seinem Tode am 19. August 1580 die Kirche sich schon bis zum Dache erhob. Man beendigte schnell
den Bau und weihete die Kirche ein. Alljährlich am dritten Sonntage des Monats Juli, an dem Feste
des Welterlösers, besuchte nun der Doge in feierlichem Aufzuge mit seinem Rath, den fremden Gesandten
und den Senatoren der Republik die Kirche zum Andenken an das Aufhören der Pest, wie es weiter das
Gelübde angeordnet hatte.

Palladio hatte schon vor der Kirche del Redentore die Kirche San Giorgio maggiore und die West-
fagade von Francesco della Vigna gebaut; er hatte bei diesen Kirchenbauten einige neue Ideen in Plan,
Anordnung und Decoration eingeführt, von denen er sich bei seinem letzten Kirchenbau wenig entfernte.
In der That haben alle diese Kirchen in ihrer allgemeinen Anordnung eine gewisse Familienähnlichkeit, die
ihren gemeinsamen Schöpfer verrathen, und man kann an ihnen die aufeinanderfolgenden Phasen beobachten,
die eine architectonische Idee von ihrem Entstehen bis zu ihrer Entwicklung nach den Studien ihres
Erfinders durchläuft. Die einzige Weise dem künstlerischen Verdienste der Kirche del Redentore gerecht
zu werden besteht darin, sie von dem Standpunkte des Classicismus aus zu betrachten, d. h. sie hinsichtlich
ihrer Kunstformen mit denen der antiken römischen Baudenkmäler zu vergleichen, die sich Palladio als
Muster und Führer bei seinen architectonischen Studien und Compositionen vorgesetzt hatte. Von diesem
Gesichtspunkte betrachtet lässt das Werk Palladio's eine Kritik zu, die es gar nicht ertragen würde, wenn
man nach der Schicklichkeit fragte, mit der hier Formen und Elemente einer heidnischen Kunst auf den
Bau einer christlichen Kirche übertragen worden **).

Nach dieser Reservation wollen wir zu einer Beschreibung und Analyse des Bauwerks übergehen.
Die Kirche hat im Grundriss die Form eines lateinischen Kreuzes; sie besteht aus einem einzigen Schiffe
mit Seitencapellen, einem Ouerschiffe mit Kuppel und halbkreisförmig geschlossenen Kreuzarmen, einer
Apsis, die das Sanctuarium einschliesst, und aus zwei Sacristeien, an die sich zwei kleine Glockenthürme

*) Wir lassen diesem Aufsatz die Beschreibung der Erlöserkirche vorangehen, da solche (als Vorbild aller spätem Jesuiten-
kirchen) den beiden andern nahe verwandt ist.

**) Der französische Autor, Herr J. Gailhabaud, trifft hier nicht den rechten Punkt. Nicht die Frage der Schicklichkeit
sondern die des architectonischen Organismus ist hier aufzuwerfen; es ist nämlich zu prüfen, ob hier die structiven Glieder
des Baues die ihren baulichen Functionen entsprechende Kunstform erhalten haben. Die antiken Bauformen, Säulen und
Gebälke nämlich sind nach unserer Ansicht nicht deshalb für eine christliche Kirche unschicklich, weil sie von einer heid-
nischen Kunst herkommen, sondern deshalb, weil sie einem verschiedenen Bauconstructions-Systeme angehören — das wir
kurzweg den Epistylien- und Balkenbau nennen wollen — weil sie für eine horizontale oder flache Decke und nicht für
eine gewölbte, im Bogen aufsteigende Decke als Stützen und Träger ursprünglich erfunden waren. Von aller historischen
Sentimentalität abgesehen würden also die antiken — specieller die griechischen Bauformen auch heute noch selbst für
eine christliche Kirche anwendbar erscheinen, wenn die Decke derselben eine Balkendecke und nicht eine gewölbte ist,
denn nur für eine vertikale Lastung und nicht für den Seitenschub der Gewölbe sind jene Bauformen erfunden und künst-
lerisch gebildet worden. Aber dieser Vorwurf unpassende bauliche Kunstformen aufgenommen zu haben trifft nicht die
Kunst der Renaissance allein, sondern schon die der Römer, sobald sie ihren Wölbebau nach dem Schema des griechischen
Balkenbaues decorirten. Wie sehr die erstere ins Gedränge kommt sehen wir überall da, wo es sich um die Decoration solcher
constructiver Bauglieder handelt, die das Mittelalter erst herbeigebracht oder doch in ihrer ganzen constructiven Bedeutung
am Bau erst hervorgehoben hatte, wir meinen die nur dem Wölbebau zukommenden Strebepfeiler und Strebebögen, an deren
Decoration immer die Renaissance-Künstler scheiterten, wie man auch an der Redemptorkirche sehen kann. Zu ihrer Ent-
schuldigung kann nur gesagt werden, dass ein logischer Kunstbaustyl kaum alle tausend Jahre erfunden wird, und dass
selbst die spätere Antike — die römische Kunst — das Vorbild der Renaissance, ihn auch nicht besass. L. L.

Denkmäler der Baukunst. XXXVIII. Lieferung. 3efuitettttrn)e!i 1.
 
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