DIE KUNST DER KAMAKURA-ZEIT IN JAPAN
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Weihrauchgerät lässig umfassend, die Gewänder schließlich breit in reichen
Faltenströmen die Linien des Körpers überschneidend, so daß die uralt gleich-
förmig gebundene Gesamtsilhouette der buddhistischen Sitzfigur nun in ein
freies Spiel auf- und abklingender Wellen und vielfach kleinteiliger Ein-
buchtungen gelöst ist.
Die Japaner pflegen den auffälligen Stilgegensatz, der die Kunst der Kama-
kurazeit von der der voraufgehenden Fujiwarazeit scheidet, auf den Orts-
wechsel zurückzuführen, der sich vollzog, nachdem im Ausgang des 12. Jahr-
hunderts mit der Errichtung des Shögunats in Kamakura der Sitz der politischen
Macht von Kyoto in ein neues Zentrum verlegt worden war. Noch blieb Kyoto
zwar die Residenz des kaiserlichen Hofes, aber dieser selbst war, zu politischer
Ohnmacht verurteilt, dem natürlichen Leben der Gegenwart entrückt, das
neue Möglichkeiten seiner Entfaltung suchte, und es ist jedenfalls eineTatsache,
die abgesehen von jedem Versuch historischer Deutung besteht, daß der Mittel-
punkt einer neuen plastischen Entwicklung, die um das Jahr 1200 einsetzte,
das alte Nara wurde, dessen Klöster während der kriegerischen Wirren der
Heikezeit arge Verwüstungen erfahren hatten und, erneuerungsbedürftig,
den Bildhauerwerkstätten reiche Gelegenheit zur Betätigung boten. So setzte
in Nara nun zum zweiten Male ein außerordentlich reges künstlerisches Leben
ein, und es könnte scheinen, als knüpfte die neue Kunst, die hier entstand,
nach den vier Jahrhunderten der Heianperiode wieder an die alte Kunst jener
Epoche an, die selbst nach der einstigen Hauptstadt die Narazeit benannt
wurde. Es ist wohl möglich, daß örtliche Tradition sowie das Fortbestehen
alter Werkstätten, auf die auch der Familienzusammenhang des neuen Bild-
hauergeschlechtes mit dem alten Meisterjöchö verweist, die Entfaltung einer
zweiten Blüte japanischer Plastik gerade in Nara begünstigte, scheint doch
— gleichwie in China — die Formenentwicklung nach einer Periode archa-
isierender Rückbildung an die Überlieferung der klassischen Kunst der frühen
T’ang- und Tempyözeit wieder anzuknüpfen. Aber die allgemeine Verwandt-
schaft künstlerischer Gesinnung der Naraplastik des 8. und des 13. Jahr-
hunderts genügt doch nicht, ohne die Voraussetzung von Zwischenstufen,
die in Japan vollkommen fehlen, den ungeheuren Schritt einer Stilentwicklung
zu deuten, deren Ablauf sich nirgendwo anders als in China vollzogen haben
kann. Das Fortbestehen einer alten lokalen Tradition allein erklärt nicht das
Wunder der Entstehung der neuen Stilform, die in Japan mit dem Namen
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Weihrauchgerät lässig umfassend, die Gewänder schließlich breit in reichen
Faltenströmen die Linien des Körpers überschneidend, so daß die uralt gleich-
förmig gebundene Gesamtsilhouette der buddhistischen Sitzfigur nun in ein
freies Spiel auf- und abklingender Wellen und vielfach kleinteiliger Ein-
buchtungen gelöst ist.
Die Japaner pflegen den auffälligen Stilgegensatz, der die Kunst der Kama-
kurazeit von der der voraufgehenden Fujiwarazeit scheidet, auf den Orts-
wechsel zurückzuführen, der sich vollzog, nachdem im Ausgang des 12. Jahr-
hunderts mit der Errichtung des Shögunats in Kamakura der Sitz der politischen
Macht von Kyoto in ein neues Zentrum verlegt worden war. Noch blieb Kyoto
zwar die Residenz des kaiserlichen Hofes, aber dieser selbst war, zu politischer
Ohnmacht verurteilt, dem natürlichen Leben der Gegenwart entrückt, das
neue Möglichkeiten seiner Entfaltung suchte, und es ist jedenfalls eineTatsache,
die abgesehen von jedem Versuch historischer Deutung besteht, daß der Mittel-
punkt einer neuen plastischen Entwicklung, die um das Jahr 1200 einsetzte,
das alte Nara wurde, dessen Klöster während der kriegerischen Wirren der
Heikezeit arge Verwüstungen erfahren hatten und, erneuerungsbedürftig,
den Bildhauerwerkstätten reiche Gelegenheit zur Betätigung boten. So setzte
in Nara nun zum zweiten Male ein außerordentlich reges künstlerisches Leben
ein, und es könnte scheinen, als knüpfte die neue Kunst, die hier entstand,
nach den vier Jahrhunderten der Heianperiode wieder an die alte Kunst jener
Epoche an, die selbst nach der einstigen Hauptstadt die Narazeit benannt
wurde. Es ist wohl möglich, daß örtliche Tradition sowie das Fortbestehen
alter Werkstätten, auf die auch der Familienzusammenhang des neuen Bild-
hauergeschlechtes mit dem alten Meisterjöchö verweist, die Entfaltung einer
zweiten Blüte japanischer Plastik gerade in Nara begünstigte, scheint doch
— gleichwie in China — die Formenentwicklung nach einer Periode archa-
isierender Rückbildung an die Überlieferung der klassischen Kunst der frühen
T’ang- und Tempyözeit wieder anzuknüpfen. Aber die allgemeine Verwandt-
schaft künstlerischer Gesinnung der Naraplastik des 8. und des 13. Jahr-
hunderts genügt doch nicht, ohne die Voraussetzung von Zwischenstufen,
die in Japan vollkommen fehlen, den ungeheuren Schritt einer Stilentwicklung
zu deuten, deren Ablauf sich nirgendwo anders als in China vollzogen haben
kann. Das Fortbestehen einer alten lokalen Tradition allein erklärt nicht das
Wunder der Entstehung der neuen Stilform, die in Japan mit dem Namen