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Görling, Adolph; Woltmann, Alfred [Bearb.]; Meyer, Bruno [Bearb.]
Deutschlands Kunstschätze: eine Sammlung der hervorragendsten Bilder der Berliner, Dresdner, Münchner, Wiener, Casseler und Braunschweiger Galerien : eine Reihe von Porträts der bedeutendsten Meister (Band 2) — Leipzig: Verlag von A.H. Payne, 1872

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https://doi.org/10.11588/diglit.62335#0283
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Michelangtw.

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in den Gestalten der Anferstandenen ein Heer bedeutender und gewaltiger Bildungen entstehen lassen.
Nur in unverhüllten Leibern ließen sich seine Gedanken verkörpern, und so bevölkerte er sein Bild
mit nackten Figuren in allen möglichen Bewegungen und Stellungen, Verkürzungen und Gruppi-
rungen, denen mehr die Lnst am Schaffen und an der Schönheit der bloßen Form als die Be-
dingung ihrer Stellung im Ganzen zum Dasein verholfen. Wiederum mischt sich hier ein manie-
ristischer Zug ein; und wenn man von einem nachtheiligen, geradezu verderblichen Einfluß Michel-
augelo's auf die nachfolgeude Küuftlergeneration zu sprechen berechtigt ist, so muß man hier die
hauptsächlichste Quelle dieses Einflusses suchen. Das war ein Weg, den der Meister betreten
!konnte, aber ein Weg, der die schwächeren Geister in seinem Gefolge nur zum Scheitern führen konnte.
Die Nacktheiten aus einem religiösen Bilde in einer Capelle erregten übrigens fortwährend
viel Anstoß. Schon während des Malens empörte sich Biagio von Cesena, der Ceremonienmeister
des Pabstes, darüber, und wurde zur Strafe von Michelangelo in die Hölle versetzt, aus der Pabst
Paul dem Bekümmerten keine Erlösung bringen zu können erklärte. Paul IV. aber weniger
nachsichtig war fest entschlossen, das ganze Bild herunterschlagen zu lassen. Mit Mühe erlangte
man die Duldung desselben an heiliger Stätte, unter der Bedingung, daß Daniele da Volterra,
Michelangelos Schüler, die auffallendsten Blößen mit Gewändern bedeckte, wofür er den Spott-
namen Braghettone (Hosenmacher) bekam. Auch später verfiel frömmelnde Deeenz mehrfach auf
!dasselbe Auskunftsmittel, um die noch übriggebliebenen Anstößigkeiten nach und nach zu beseitigen.
Mitten in die Jahre der Arbeit am Weltgericht siel ein für Michelangelo wichtiges Ereigniß,
feine Bekanntschaft mit Vittoria Colonna. Sein Hang zu Melancholie und Einsamkeit ist
schon erwähnt. „Ich habe keine Freunde, brauche keine und will keine haben", schrieb er in jungen
Jahren von Rom aus nach Hause. Daß er je in seinem Leben wirklich geliebt, ist mindestens
zweifelhast. Wir sind auf diese Frageu seines inneren Lebens als Quelle auf einen Schatz hinge-
,wiesen, der hier leider nur angedeutet, nicht eröffnet werden darf, seine Gedichte. Wenn er in
seinen Schöpfungen der bildenden Kunst stets wie ein Halbgott, wie ein übermenschliches Wesen,
wie ein Wnnder erscheint, in seinen Gedichten ist er verständlicher, ist er Mensch, der große, gewal-
tige freilich; hier lebt er die Empfindungen in gedankenhaft ernster und schwungvoll schöner
Sprache aus, die seine Seele bewegen. Eine ganze Geschichte seines inneren Lebens liegt in diesen
!bedeutsamen Gedichten vor uns; im wesentlichen ist ihr Verlauf schon geschildert bei der Dar-
;stellung des Schönheitscultus in der platonischen Akademie. Selten nur wird der ideale Lauf
zur Idee des Schönen hinauf bei ihm von Individuellem und Besonderem unterbrochen. In
diesen Zeugnissen seines inneren Menschen gehört Michelangelo zu den größten Dichtern Italiens.
Seine Poesien sind eben nicht gelegentliche Ergüsse in problematischer Form, die ein gewisses Inter-
esse durch die Person des Urhebers erlangen, sondern sie sind an und für sich hoch bedeutend und
würden ihm allein einen Ehrenplatz sichern unter den bezeichnendsten Erscheinungen der Renaissance-
zeit. Wohl spricht er von der Gluth der Leidenschaft, von den Qualen des Verlangens, aber nie von
dem Glück des Besitzes, von der Seligkeit des Genusses; und wenn er begeistert die Geliebte
ansingt, so ist diese nicht ein irdisches weibliches Wesen, sondern das Ideal, das seine Seele erleuch-
tet, das Schöne, die Kunst.
So verfolgt er ein langes Leben einsam seinen Weg. Widerwärtigkeiten aller Art Hatten
!ihn resignirter gemacht. Schon an der Schwelle des Greisenalters, doch noch voll kühner Entwürfe,

Deutschlands Kunstschätzs. il.

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