Deutschlands Kunstschätze. 101
dem ein mit großen Fenstern versehener, schuppenähnlicher Neubau angefügt war. Nach den Blen-
dungen an den Fenstern zu urtheilen befand sich hier ein Maleratelier.
Annibale Carracci kam in den saalähnlichen Raum, wo etwa eiu Dutzend Jünglinge und
junge Männer an den Staffeleien saß und arbeitete, indeß ein langer, hagerer Mann von gegen
vierzig Jahren, in ein talarähnliches Gewand gehüllt, mit auf den Rücken gelegten Händen durch
den freien Gang des Saales schritt, um von Zeit zu Zeit einen oder den andern der Schüler einige
Bemerkungen mit leiser Stimme zuzuflüstern.
Dies war Ludovico Carracci, der Oheim Annibales, aber nur um etwa fünf Jahre älter als
dieser; der Denker und Forscher, welcher es gewagt hatte, einer entarteten Kunstausübung dadurch
Halt gebieten zu wollen, daß er sich den Formen der Antike und der alten großen Meister Italiens
bemächtigte.
Annibale ergriff den Lehrmeister saft unsanft beim Arme und zog ihn in ein kleines, an den
Saal anstoßendes Zimmer.
„Maria und Joseph, was ist Dir?" fragte Lodovico, jetzt erst Annibale, seinen Meisterschüler
genauer in's Auge fassend. „Sage mir rasch; denn ich muß sogleich meinen Vortrag über die
Gruppenbildungen des Raphael beginnen..."
„Wenn die Tröpfe da draußen kein Wort davon hören werden, so wird's desto besser für sie
sein. Ich wollte, ich hätte nie etwas von Deiner Schulmeisterweisheit gehört — vielleicht wäre
ich dann ein Maler geworden, der volles, strotzendes Leben malen könnte, das durch seine Erscheinung
jeden Widerspruch niederzwingt. Zum Diavolo mit Deinen Theorien und Systemen, die kein Mensch
in der Welt durch die Färbung lebendig machen kann ... Geh' zum Godefroy, Lodovico — das ist
der Mann, welcher Dir mit fünf Worten die Sonne scheinen läßt, der in der That und Wahrheit
das weiß, was Du nun schon so lange vergeblich Herauszucalculiren versucht Haft.."
„Godefroy?" fragte Lodovico. „Der Tanzmeister — der Minister Ranuzio's?"
„Ja, das ist ein Tanzmeister. Er hat mir einen Tanz aufgespielt, daß ich wie ein Bettel-
knabe aus dem Palast geflogen bin . . ."
„Aber dies ist wahrhaft erschreckend, guter Annibale!" sagte Lodovico, den Neffen starr ansehend.
„Ja, das meine ich mit Dir! Nachdem die Cartons zum Bacchus und der Ariadne unter
schwerer Mühe gezeichnet und durch eine noch größere Sisyphusarbeit kritisirt, reconstruirt und
schließlich streng systematisch für probehaltig von Dir befunden worden sind, stellt sich's heraus,
daß die sämmtlichen weiblichen Figuren alberne Holzpuppen sind, denen unter anderen wünschens-
werthen Dingen das Leben abgeht."
„Aber wer Hat Dir das eingeredet?"
„Bewiesen, mußt Du sagen! Wer anders, als Godefroy!"
„O, theurer Annibale, wie kann Dich das beunruhigen, was ein Beurtheiler vorbringt, der
von Malerei so wenig versteht, wie dieser Franzose — das heißt gar nichts!"
„Oheim, und wenn es ein Neger wäre, soeben aus dem wilden Afrika angekommen, und er
machte mir Bemerkungen, welche gleich denen Godefroy's mich mit der vollen Wucht ihrer innern
Wahrheit träfen, so würde ich nichts gegen diese Kritik aufzubringen vermögen!"
„Ich fange an bekümmert zu werden, o Annibale!" sagte Lodovico ängstlichen Tones. „Deine
Empfindlichkeit, Deine Leidenschaftlichkeit fahren wieder einmal mit vollen Segeln... Ich will
dem ein mit großen Fenstern versehener, schuppenähnlicher Neubau angefügt war. Nach den Blen-
dungen an den Fenstern zu urtheilen befand sich hier ein Maleratelier.
Annibale Carracci kam in den saalähnlichen Raum, wo etwa eiu Dutzend Jünglinge und
junge Männer an den Staffeleien saß und arbeitete, indeß ein langer, hagerer Mann von gegen
vierzig Jahren, in ein talarähnliches Gewand gehüllt, mit auf den Rücken gelegten Händen durch
den freien Gang des Saales schritt, um von Zeit zu Zeit einen oder den andern der Schüler einige
Bemerkungen mit leiser Stimme zuzuflüstern.
Dies war Ludovico Carracci, der Oheim Annibales, aber nur um etwa fünf Jahre älter als
dieser; der Denker und Forscher, welcher es gewagt hatte, einer entarteten Kunstausübung dadurch
Halt gebieten zu wollen, daß er sich den Formen der Antike und der alten großen Meister Italiens
bemächtigte.
Annibale ergriff den Lehrmeister saft unsanft beim Arme und zog ihn in ein kleines, an den
Saal anstoßendes Zimmer.
„Maria und Joseph, was ist Dir?" fragte Lodovico, jetzt erst Annibale, seinen Meisterschüler
genauer in's Auge fassend. „Sage mir rasch; denn ich muß sogleich meinen Vortrag über die
Gruppenbildungen des Raphael beginnen..."
„Wenn die Tröpfe da draußen kein Wort davon hören werden, so wird's desto besser für sie
sein. Ich wollte, ich hätte nie etwas von Deiner Schulmeisterweisheit gehört — vielleicht wäre
ich dann ein Maler geworden, der volles, strotzendes Leben malen könnte, das durch seine Erscheinung
jeden Widerspruch niederzwingt. Zum Diavolo mit Deinen Theorien und Systemen, die kein Mensch
in der Welt durch die Färbung lebendig machen kann ... Geh' zum Godefroy, Lodovico — das ist
der Mann, welcher Dir mit fünf Worten die Sonne scheinen läßt, der in der That und Wahrheit
das weiß, was Du nun schon so lange vergeblich Herauszucalculiren versucht Haft.."
„Godefroy?" fragte Lodovico. „Der Tanzmeister — der Minister Ranuzio's?"
„Ja, das ist ein Tanzmeister. Er hat mir einen Tanz aufgespielt, daß ich wie ein Bettel-
knabe aus dem Palast geflogen bin . . ."
„Aber dies ist wahrhaft erschreckend, guter Annibale!" sagte Lodovico, den Neffen starr ansehend.
„Ja, das meine ich mit Dir! Nachdem die Cartons zum Bacchus und der Ariadne unter
schwerer Mühe gezeichnet und durch eine noch größere Sisyphusarbeit kritisirt, reconstruirt und
schließlich streng systematisch für probehaltig von Dir befunden worden sind, stellt sich's heraus,
daß die sämmtlichen weiblichen Figuren alberne Holzpuppen sind, denen unter anderen wünschens-
werthen Dingen das Leben abgeht."
„Aber wer Hat Dir das eingeredet?"
„Bewiesen, mußt Du sagen! Wer anders, als Godefroy!"
„O, theurer Annibale, wie kann Dich das beunruhigen, was ein Beurtheiler vorbringt, der
von Malerei so wenig versteht, wie dieser Franzose — das heißt gar nichts!"
„Oheim, und wenn es ein Neger wäre, soeben aus dem wilden Afrika angekommen, und er
machte mir Bemerkungen, welche gleich denen Godefroy's mich mit der vollen Wucht ihrer innern
Wahrheit träfen, so würde ich nichts gegen diese Kritik aufzubringen vermögen!"
„Ich fange an bekümmert zu werden, o Annibale!" sagte Lodovico ängstlichen Tones. „Deine
Empfindlichkeit, Deine Leidenschaftlichkeit fahren wieder einmal mit vollen Segeln... Ich will