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Schmiedeberg-Blume, Else von [Hrsg.]; Mal- und Zeichen-Unterricht GmbH <Berlin> [Hrsg.]; Meru, Johannes [Mitarb.]
Handbuch und Lehrkursus für die Kunst des Zeichnens und Malens (Band 1): Grundlagen der Technik und Komposition: mit 213 einfarbigen und farbigen Abbildungen — Braunschweig, 1927

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https://doi.org/10.11588/diglit.23972#0011
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In ihrer bildnerischen Darstellung bevorzugten die Völker mit wachsender Kultur,
wie spätere Betrachtungen uns das zeigen werden, die Wiedergabe der greifbarsten
Manifestationen der Natur, der Lebewesen, der Tiere und Menschen. Die Plastik, da
sie von allen Seiten anpacken konnte, kam schneller zu einem realen Ziel als die Malerei,
die bis weit in die griechische Kunst hinein in der Körperwiedergabe frontal blieb.
Auch die Perspektive kannten diese alten Völker noch nicht; ihre Anschauung war noch
zu jung. Erst mit wachsender Erfahrung trat allmählich eine rein empirische, d. h. auf
Erfahrung gegründete Perspektive in die bildliche Wiedergabe, noch ehe die wissen*
schaftliche Formulierung eine Tatsache wurde. Wir werden später sehen, wie interessant
es ist, in den Reliefs und Bildern des frühen Mittelalters das Erwachen perspektivischer
Erkenntnis zu beobachten.

Die gleiche Entwicklungsgeschichte des malerischen Sehens, wie sie
die Völker durchgemacht haben, erlebt auch der einzelne Mensch, nur über*
windet er schneller die primitiven Vorstufen infolge von Anleitung und Belehrung und
frühe Gewöhnung schon in den Kinderjahren. Die Erfahrungen der Jahrhunderte haben
ihm die Schwierigkeiten aus dem Wege geräumt und den durch Generationen entwickel*
ten und vererbten Instinkt zu einer mehr oder weniger richtigen Anschauung entwickelt.

Aus diesem kurzen Überblick erseht Ihr, wie leicht wir Heutigen es eigentlich haben,
die wir die wesentlichsten Begriffe und Vorstellungen als ererbtes Kulturgut ungezählter
Generationen im Keim schon besitzen. Mit dem Bewußtwerden unseres Seins sind bei
dem normalen Menschen die primitiven Vorstufen überwunden, und aus der allgemeinen,
typischen Vorstellung kann und muß sich nun die persönliche entwickeln.

Wo immer ein Funke künstlerischen Empfindens ist, wird auch der Gestaltungstrieb
früh sich regen. Beim Kinde schon äußert er sich im Spielen, im Setzen und Auf bauen
der Bauklötzchen, in der Anlage kleiner Gärten mit Steinen und Moos, mit Farn* und
Tannenzweigen, wie man das so oft beobachten kann. Das Zeichnen mit einem Stecken
im Sande ist auch eine frühe Betätigung des Willens zum Nachschaffen. Der Zeichen*
unterricht in den Schulen ist heute ja auch so gehalten, daß er unter Vermeidung des
sinnlosen Nachzeichnens von Vorlagen gleich auf die Natur verweist. Ein Würfel, eine
Streichholzschachtel, ein Leuchter oder ähnliche einfache Gegenstände dienen als Mo*
delle, und indem das Kind sich bemüht, mit Bleistift oder Kohle auf seinem Blatt
Papier eine ähnliche Erscheinung hervorzubringen, empfindet es schon etwas von der
Freude des Schaffens. Diese Vorstufen hat der junge Mensch von heute hinter sich,
wenn er, seines Wollens sich bewußt, den den meisten Menschen innewohnenden Ge*
staltungstrieb in einer bestimmten Richtung entwickeln will.

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