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Schmiedeberg-Blume, Else von [Hrsg.]; Mal- und Zeichen-Unterricht GmbH <Berlin> [Hrsg.]; Meru, Johannes [Mitarb.]
Handbuch und Lehrkursus für die Kunst des Zeichnens und Malens (Band 1): Grundlagen der Technik und Komposition: mit 213 einfarbigen und farbigen Abbildungen — Braunschweig, 1927

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https://doi.org/10.11588/diglit.23972#0010
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EINLEITUNG

»Schön ist Mutter Natur deiner Erfindung Pracht auf die
Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht, das den großen
Gedanken deiner Schöpfung noch einmal denkt.«

Klopstock, Ode an den Zürchersee.

Könnte man einem Buch, das bestimmt ist, Anregung und Anleitung zum Zeichnen
und Malen zu vermitteln, ein schöneres Geleitwort geben als diese Verse eines
unserer deutschesten Dichter? In diesen Worten schildert er die Natur als Allmutter
der Kunst, das begnadet Beglückende des künstlerischen Nachschaffens. Als Dichter
ist ihm das Nachbilden zuerst ein Nachdenken. Um wieviel mehr noch ist der bildende
Künstler berufen, sich der Natur andächtig zu nähern und ihr Sein, wie es in der Er*
scheinung sich offenbart, zu erfassen und wiederzugeben, ist doch sein Werk noch eine
ganz andere Realität als das des Dichters.

Tatsächlich haben die Menschen bis zu den fernsten Zeiten zurück in der Natur
ihre erhabenste Lehrmeisterin erkannt. Es gibt kaum eine Kunstäußerung, die sich nicht
auf Eindrücke zurückführen läßt, welche die Natur vermittelte. Die einfachsten Orna*
mente schon, mit denen prähistorische Völker ihre primitiven Gebrauchsgegenstände, wie
Schalen und Töpfe, zierten, zeugen davon. Alle Linien, die auch die Schmuckstücke aus
Eisen und Bronze, die Streitäxte und Waffengüsse veredelten, gehen letzten Endes auf Vor*
bilder zurück, welche Naturerscheinungen der Erdoberfläche den hungrigen Augen boten.

Die einfachsten Linien, Vertikale und Horizontale, haben ihr bewegtes Vorbild in
den himmelwärtsragenden Bäumen, in der scheinbaren Berührung von Himmel und
Erde, die wir Horizont nennen. Und sollten gleichmäßig bewegte Linien nicht ihr Ur*
bild im regelmäßigen Auf und Nieder der Meereswellen haben? Die Tempel der Ägypter
zeigen es klar und deutlich, wie die hochaufstrebenden Palmen sie zur Nachahmung
begeisterten. Die Höhe und Heiligkeit eines Palmenwaldes, in steinerne Formen gebannt,
wurde das hehrste Haus ihrer Götter. Die Kunstgeschichte hat das früh erkannt und
benennt die Kapitelle der Tempelsäulen nach der Form ihrer Vorbilder das Palmblatt*
und das Lotoskapitell.

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