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Deldcluze: Dante Alghieri.
Was den von Hrn. Witte gegebenen Beweis für seine Behauptung
der Dante’schen Ansicht von der Philosophie betrifft, dass nämlich Dante
selbst zugestanden habe, die Frucht seiner mühsamen Studien sei nur Er-
mattung von vergeblichem Kampfe, Trostlosigkeit und Erkenntniss der
Sündhaftigkeit gewesen, und dass er als Ausdruck dieses reuigen Gefühls
die Frau grausam und mitleidlos genannt habe: so ist das entweder eine
absichtliche Verstellung, um eine einmal gefasste Idee durchzusetzen, oder
eine höchst oberflächliche Betrachtung der Dante’schen Werke.
Dante sagt: Die Augen der Frau bedeuten die Beweisführungen der
Philosophie und ihr Lächeln ihre Ueberredungen (persuasioni). Die Thä-
tigkeit des menschlichen Geistes auf Erden kann nur in dem Schauen die-
ser Mienen bestehen, und in ihm allein wird die menschliche Vervoll-
kommnung und Glückseligkeit erlangt. (III. 15.) Aber die Beweisführungen
der Philosophie müssen von dem menschlichen Geiste verstanden werden,
und dadurch allein wird die Sehnsucht befriedigt. Die Mienen dieser Frau
sind also immer dieselben, sie drücken immer dieselben hehren Eigen-
schaften, Erbarmen, Liebe und Grösse aus. Ihr Anschein ist aber zu-
weilen unwillig und hart, und dieser Anschein kommt nur von dem For-
schenden und seinen durch Zweifel und Unwissenheit getrübten Blicken.
(IV. 1. 2. 10.) Denn frei muss die Seele sein, wenn sie ihr Heil in
den Augen dieser Frau sucht. Daher ist in der 1. Canzone Strophe 2
die angoscia di sospiri erklärt als die Arbeit des Studirens und den Kampf
der Zweifel, welche von Anfang an vermehrt aufsteigen, und dann, wenn
das Licht der Philosophie mehr aufgeht, wie Nebel herabfallen, wodurch
der mit der Philosophie vertraute Geist frei und voll Gewissheit bleibt.
CIL 16.)
Es ist klar und lässt sich noch aus hundert andern Stellen bewei-
sen, dass die Absicht Dante’s, als er die drei Werke schrieb, durchaus
nicht war, das Studium der Philosophie als einen sündigen Abfall von dem
gottergebenen Glauben darzustellen, und die Menschen zu warnen, dass
sie nicht auf menschlichen Wegen nach Erkenntniss jagen, sondern sich
bescheiden nach dem hohem Licht sehnen und dies in Demuth erflehen
sollen. In diesem Falle hätte Dante den Commentar zum Convito niemals
und am wenigsten im reifem Alter geschrieben.
Hr. Witte sucht aber seinen Satz, dass die Liebe zur Philosophie
von Dante als eine Untreue an dem gottergebenen Glauben betrachtet
worden sei, S. 53 aus mehrern Stellen des Purgatorio zu beweisen:
1) Purgat. XXIII. 116. Dies ist unbegreiflich falsch. Nicht Forese,
sondern Dante sagt die Worte. Und aus dem Vorhergehenden und Fol-
Deldcluze: Dante Alghieri.
Was den von Hrn. Witte gegebenen Beweis für seine Behauptung
der Dante’schen Ansicht von der Philosophie betrifft, dass nämlich Dante
selbst zugestanden habe, die Frucht seiner mühsamen Studien sei nur Er-
mattung von vergeblichem Kampfe, Trostlosigkeit und Erkenntniss der
Sündhaftigkeit gewesen, und dass er als Ausdruck dieses reuigen Gefühls
die Frau grausam und mitleidlos genannt habe: so ist das entweder eine
absichtliche Verstellung, um eine einmal gefasste Idee durchzusetzen, oder
eine höchst oberflächliche Betrachtung der Dante’schen Werke.
Dante sagt: Die Augen der Frau bedeuten die Beweisführungen der
Philosophie und ihr Lächeln ihre Ueberredungen (persuasioni). Die Thä-
tigkeit des menschlichen Geistes auf Erden kann nur in dem Schauen die-
ser Mienen bestehen, und in ihm allein wird die menschliche Vervoll-
kommnung und Glückseligkeit erlangt. (III. 15.) Aber die Beweisführungen
der Philosophie müssen von dem menschlichen Geiste verstanden werden,
und dadurch allein wird die Sehnsucht befriedigt. Die Mienen dieser Frau
sind also immer dieselben, sie drücken immer dieselben hehren Eigen-
schaften, Erbarmen, Liebe und Grösse aus. Ihr Anschein ist aber zu-
weilen unwillig und hart, und dieser Anschein kommt nur von dem For-
schenden und seinen durch Zweifel und Unwissenheit getrübten Blicken.
(IV. 1. 2. 10.) Denn frei muss die Seele sein, wenn sie ihr Heil in
den Augen dieser Frau sucht. Daher ist in der 1. Canzone Strophe 2
die angoscia di sospiri erklärt als die Arbeit des Studirens und den Kampf
der Zweifel, welche von Anfang an vermehrt aufsteigen, und dann, wenn
das Licht der Philosophie mehr aufgeht, wie Nebel herabfallen, wodurch
der mit der Philosophie vertraute Geist frei und voll Gewissheit bleibt.
CIL 16.)
Es ist klar und lässt sich noch aus hundert andern Stellen bewei-
sen, dass die Absicht Dante’s, als er die drei Werke schrieb, durchaus
nicht war, das Studium der Philosophie als einen sündigen Abfall von dem
gottergebenen Glauben darzustellen, und die Menschen zu warnen, dass
sie nicht auf menschlichen Wegen nach Erkenntniss jagen, sondern sich
bescheiden nach dem hohem Licht sehnen und dies in Demuth erflehen
sollen. In diesem Falle hätte Dante den Commentar zum Convito niemals
und am wenigsten im reifem Alter geschrieben.
Hr. Witte sucht aber seinen Satz, dass die Liebe zur Philosophie
von Dante als eine Untreue an dem gottergebenen Glauben betrachtet
worden sei, S. 53 aus mehrern Stellen des Purgatorio zu beweisen:
1) Purgat. XXIII. 116. Dies ist unbegreiflich falsch. Nicht Forese,
sondern Dante sagt die Worte. Und aus dem Vorhergehenden und Fol-