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Nr. 45. HEIDELBERGER NO¬
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Latour St. Ybars. Neron sa vie et son epoque Paris. Michel
Levy freres 1867. 615 S.
Die römische Kaisergeschichte hat in Frankreich von jeher
eine liebevolle Pflege gefunden. Seitdem der alte Tillemont seine
noch immer trotz bedeutender Mängel nicht übertroffene Histoire
des Empereurs geschrieben, sind zu allen Zeiten mehr oder minder
werthvolle Beiträge in diesem Lande erschienen. Ganz besonders
ergiebig sind die letzten 60 Jahre gewesen und unter diesen stehen
in der massenhaften Production wieder die Zeiten des zweiten
Kaiserreichs obenan. Es ist dies eine natürliche Folge der Ver-
hältnisse. Man suchte den Napoleonismus in seinen Ursachen und
Wirkungen zu erfassen und nichts lag näher als in dem Cäsaris-
mus der römischen Kaiserzeit Analogieen zu finden. Dieser Um-
stand wirkte theils vortheilhaft, theils nachtheilig auf die betref-
fenden Geschichtswerke. Der politische Blick erweiterte sich, das
lebendige Verständniss wuchs, die Darstellung gewann ein ganz
anderes Leben, wenn man auch nicht an die allgemeine Darstellungs-
kunst der Franzosen denkt; aber alle diese Vortheile entstanden
auf Unkosten der eingehenden und unparteiischen Forschung und
es drohte fast regelmässig die Gefahr, auf Verhältnisse, die eben
nur in jener Zeit ihre Erklärung finden, von dem trügerischen
Standpunkte der Gegenwart das Urtheil zu übertragen oder auch
umgekehrt. Die gleichen Vorgänge und die gleichen Fehler weist
die Geschichte Nero’s von St. Ybars auf. Sie ist brillant, lebens-
voll und mit einer glänzenden Phantasie geschrieben und bietet
demjenigen, der es mit den Thatsachen nicht genau nimmt, eine
fesselnde Lecture; aber ihr wissenschaftlicher Gehalt ist gering
und speciell für die deutsche Wissenschaft ist das Werk keine Be-
reicherung. Dies möge an einigen Fällen nachzuweisen erlaubt sein.
Es ist vor Allem nothwendig, dass der Verfasser eines solchen
Werkes sich über seine Stellung zu den Quellen ausspricht. Herr
L. St. Y. thut dies ganz kurz in seiner Einleitung. Demnach lag
es im Interesse der Flavier, die Sehnsucht nach Nero, die im Volke
lebte, zu zerstören und aus dem todten Kaiser selbst einen Gegen-
stand des allgemeinen Hasses zu machen. Dieser Absicht sollen
die beiden Plinius, Sueton und Tacitus gedient und darum mit
offener Parteilichkeit gegen Nero geschrieben haben. Während die
Schriftsteller der kaiserlichen Partei sämmtlich verloren gingen,
kamen nur die Berichte seiner Feinde auf unsere Zeit; und was
jene unterlassen haben, das haben die Kirchenväter vollendet, welche
LXIII. Jahrg. 9. Heft. 45
 
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