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Illustrierte Welt : vereinigt mit Buch für alle: ill. Familienzeitung — 24.1876

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Heft 1
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https://doi.org/10.11588/diglit.62254#0009
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Der Seelenfänger.
Erzählung
von
Joseph Rank.
1.
Der geheimnißvolle Pavillon.
Das Gabelfrühstück, wel-
ches der erste Badearzt eini-
gen Freunden gegeben, war
vorüber.
Die Gäste hatten sich nach
Laune und Bequemlichkeit
gruppirt; die Stimmung war
angenehm, leicht gehoben;
beim liebenswürdigen Doktor
streifte sie an Weinlaune, die
ihren Höhepunkt erreichte, als
Nielsen, der Naturforscher und
Reisende, den glücklichen Be-
ginn der Badefaifon hervorhob
und ihr einen glänzenden
Fortgang prophezeite.
„Ja ja," sagte der Dok-
tor, feine Cigarre frisch in's
Feuer fetzend, „man merkt's,
daß Sie lange auf Reisen, in
fremden Welttheilen waren.
Um über eine Badesaison —
überMolken-HausseoderBaisfe
— urth eilen zu können, muß
man jahrelang Stamm-Kur-
gast gewesen fein! — Ich
sage Ihnen — die guten
Zeiten sind vorüber! Es ist
nichts mehr!"
„Aber ein solches Früh-
jahr!" ries Nielsen, „warm,
sonnig, beständig! Wir haben
den 20. Mai und Blumen
und Blüten stehen nicht bloß
in botanischen Büchern, son-
dern realiter in Gärten, auf
Wiesen! Ein wahrer Dichter-
frühling ! Es schallt von allen
Zweigen. Die Kurliste jetzt
schon auf vierhundert Fami-
lien, mit taufend Personen!
Wenn das keine Aspekten für
eine gute Saison sind, so gibt
es keine!"
Der Doktor lachte.
„Haben Sie schon eine
Schaar Sperlinge gesehen?"
sagte er, „ein Schuß und fort
sind sie!. .. Das ist es eben.
Wir haben mehrere Jahre gut
angefangen und kläglich ge-
endigt — wie in der Politik.
Staatsminister Frühjahr hat
Jllustr. Welt. XXIV. 1.

Wiegenlied. Nach dem Gemälde von Karl Schlösser. (S. 26.)


durch konstitutionelle Lichtblicke
die Herzen Vertrauensseliger
in's Freie, in Bäder gelockt
— dann eröffnete er die Des-
potenkünste der Enttäuschung,
verjagte die Wenigen, die hier
waren, und hielt die Uebrigen
vom Herkommen ab; — und
erst der Sommer! Er hatte
eine förmliche Polizeifurcht vor
Vereinsrecht und Versamm-
lungen unter freiem Himmel
— unerbittlich zersprengte er
mit eisigen Geschossen, was
sich einfinden wollte."
„Uebertrieben, Doktor,
übertrieben! Wie kämen sonst
die Badeärzte dazu, sich solche
Villen zu bauen, wie Sie?"
sagte Nielsen.
„Schein! Täuschung!" rief
der Doktor, „munäu8 vnlr
ckoeipi. Ein reicher Doktor
muß gut kurirt haben — das
ist die schiefe Logik der Leute.
Also ist der Doktor gezwun-
gen, reich zu scheinen,
Equipagen zu halten, zu bauen
— und schuldig zu bleiben!"
„Das findet auf Sie keine
Anwendung. Ihre Villa haben
Sie bezahlt — aber Sie ha-
ben andere Sorgen!"
„Ganz recht," fiel Jage-
mann, der Oberforstrath, ein,
„dem Doktor macht es Sor-
gen, das Haus um's Doppelte
wieder an Mann zu bringen."
„Das wollte ich sagen,"
nickte Nielsen.
„Um's Doppelte!" rief
der Doktor; „hätte ich meine
Auslagen wieder! — Vori-
ges Jahr stand mir das Haus
leer und jetzt . . ."
„Muß ich leider die erste
Miethpartie absagen," be-
merkte Badekommissär Wör-
ner, vom Fenster, wo er ge-
standen, hinzutretend, „die
Partie hat neulich Haus,
Lage, Garten mit Entzücken
gesehen, aber auch bemerkt,
daß man vom Balkon aus —
denverhängnißvollen Pavillon
erblickt, in welchem vor an-
derthalb Jahren der Baron
vonWildberg ermordet worden
ist!... Die Familie bittet,
es nicht übel zu nehmen,
aber..."
„Da hören Sie's!" ries
der Doktor in komischer Ver-
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