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Illustrierte Welt : vereinigt mit Buch für alle: ill. Familienzeitung — 24.1876

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Heft 14
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https://doi.org/10.11588/diglit.62254#0338
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Die schöne Seele.
Novelette
von
Ernst Eckstein.
(Nachdruck verboten.)
Ich will dem Leser im Folgenden eine Geschichte erzählen,
die ganz darnach klingt, als sei sie irgend einem altitalienischen
Novellenbuch entnommen, während sie sich mit allen ihren
Einzelheiten vor wenigen Jahren in der Toledostraße Neapels
abspielte. Ich liefere also lediglich einen Beitrag zur Kenntniß
der neapolitanischen Gesellschaft und will meine Skizze aus die-
sem Gesichtspunkte beurtheilt wissen.
Der Held unserer Historie heißt Marcello. Er war erster

Commis in einem Weißwaarengeschäft jener Hauptschlagader,
die von den Göttern der neu-italienischen Regierung Via di
Roma, von den sterblichen Menschen aber Strada di Toledo
genannt wird. Seine wissenschaftliche Bildung beschränkte sich
auf das bescheidene Durchschnittsmaß, das den Neapolitanern,
die ihre Heimat nicht verlassen haben und keinem speziellen
Drange nach Aufklärung folgen, eigen zu sein pflegt. Die
Hauptquelle feiner geistigen Nahrung bestand in der Lektüre
des „Pungolo" und des „Giornale di Napoli", auf die fein
Herr abonnirt war. Auch las er mit Vorliebe die Makulatur,
welche Signor Schiassi nach dem Gewicht kaufte, um feine
Maaren einzuwickeln. Was ihm indeß an positiven Kenntnissen
abging, wußte er durch seine natürlichen Anlagen zu ersetzen,
und so galt er denn in der ganzen Nachbarschaft für einen
Schöngeist, der es mit den Besten seiner Zeit aufnehmen konnte. !

Marcello besaß insbesondere die Gabe einer hocheleganten
Schreibweise. Dem Vernehmen nach'existirte indem Kreise seiner
Bekanntschaft keine junge Dame, die er nicht ein paarmal mit
Sonetten und Oden überrascht hatte. In besonders wichtigen
Fällen wählte er indeß die Prosa des italienischen Briefstyls,
und leistete hier so Außerordentliches, daß er ohne Zweifel dem
weltberühmten None und Herzensbrecher Don Juan Kon-
kurrenz gemacht haben würde, wenn nicht alle die Mädchen, die
beim Lesen seiner stammensprühenden Zeilen in Ekstase versetzt
wurden, beim Anblick seiner Persönlichkeit sofort wieder zur
Besinnung gekommen wären. Marcello war nämlich die Häß-
lichkeit selber. Klein und schlecht gewachsen, glich er in seiner-
ganzen Erscheinung einem Känguruh, eine Aehnlichkeit, die sich
auch auf den Ausdruck des Gesichts erstreckte. Dabei war er
inr Staude, vom Ufer aus gleichzeitig den Vesuv und den Po-

Der Dorndreher oder Neuntödter. (S. 362.)


Jllustr. Welt. XXIV. 14.

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