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Illustrierte Welt : vereinigt mit Buch für alle: ill. Familienzeitung — 24.1876

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Heft 3
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https://doi.org/10.11588/diglit.62254#0059
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HtENtlLWsnÄtgsUe


KeHeimmsse.
Roman
von
Gart Hartmann-Plön.
Erstes Kapitel.
Der Monat März hatte bereits vierundzwanzig Tage er-
lebt, ohne daß ein einziger Sonnentag darunter gewesen wäre,
und damit war jede Möglichkeit ent-
schwunden, die von der Natur uns
verbrieften und von Rechtswegen
zukommenden neun Frühlingstage zu
erhalten. Zu Anfang dieses Monats
war noch ziemlich starkes Frostwetter
gewesen, darauf trat Thauwetter
und mit ihm großstockiges Schnee-
gestöber ein, welches das Trottoir
der Residenz wie mit spartanischer
Suppe überzog; darauf grau melan-
cholisches Regenwetter, nach diesem
ein dreitägiger Nordwest, ein kleiner
Orkan, und als.nun endlich der
erste fröhliche Frühlingstag in die
Welt sprang, da waren alle Straßen,
alle Wege trocken und jedes Herz
ging auf vor köstlicher Frühlings-
ahnung.
Der erste Frühlingstag! —
Schon um elf Uhr Vormittags waren
die Straßen von einer wogenden
Menschenmenge angefüllt. Keiner
konnte es erwarten, die schöne
Frühlingsluft einzuathmen. Da sah
man Damen jeden Alters, den
schweren Wintermantel schon ver-
tauscht mit einem Frühlingsüberzug,
die älteren von ihnen zwar noch mit
einem Pelzkragen, die Knöpfe am
Halse aber schon gelöst; da sah
man junge und halbalte Dandies
mit halbhellem Paletot, halbhellen
Frühlingshosen und halbhellen Hand-
schuhen. Ferner Genesende und
Brustschwache, die Sonnenschein und
frische Luft in gierigen Zügen ge-
nossen, und außerdem Meuschen jeder
Gattung und jeden Standes.
Es war merkwürdig, daß fast
alle Spaziergänger in derselben Rich-
tung fortwanderten. Vom Rath-
hausmarkt kamen sie daher und gin-
gen die lange Louisenstraße hinab,
durch das Louisenthor auf den gro-
ßen Bahnhofsplatz, auf dem das
kolossale, neuerbaute Bahnhofsge-
bäude lag, welches heute eingeweiht
werden und in dessen Halle um elf
ein halb Uhr zum ersten Male der
Zug, von Westen kommend, hinein-
fahren sollte. Dieser Umstand hätte
an einem regnerischen Tage wohl
nur Wenige in's Freie gelockt, heute

aber betrachteten alle Spaziergänger den Bahnhof als vorläufi-
ges Ziel ihrer Wanderung. Wie sie lachten und schwatzten,
die fröhlichen Menschenkinder, wie sie hüpften und dahin-
gaukelten wie eine flatternde Schmetterlingsversammlung; alle
Sorge, allen Kummer hatten sie daheim gelassen, wo der Ofen
noch fein strenges Regiment führte und wohin noch keine Früh-
lingslüfte gedrungen waren.
Nur Einer unter all' diesen vergnügten Menschen schien
nicht die allgemeine Heiterkeit zu theilen, der Wanderer sah sehr
mürrisch aus; seine Augenbrauen waren dicht zusammenge-

zogen und die Lippen fest auf einander gepreßt. Dabei blickte
er sich alle Augenblicke um, und wenn er dann in lachende
Mädchengesichter schaute, verdoppelte er seine Schritte, überholte
andere Wanderer und sah sich abermals um, und wenn er
dann bemerkte, daß ältere Damen oder Herren sich hinter ihm
befanden, fing er an, seinen Schritt wieder zu mäßigen. Doch
selbst das war ihm nicht angenehm, nicht als ob er hinterrücks
einen An griff auf seine Person fürchtete, nein, er fürchtete nur
einen Anblick auf feinen Rücken, der, wir dürfen es nicht ver-
schweigen, die gewöhnliche anatomische Geradheit nicht besaß,
sondern ein wenig nach der linken
Seite hin abwich, und die rechter-
seits angebrachte Watte war nicht
im Stande, das Mißverhältniß ganz
auszugleichen. Das wußte der In-
haber dieses Rückens selbst recht gut,
eben so gut wußte er, wenigstens
kam es ihm so vor, daß er von
vorne betrachtet aussah wie ein
wohlgewachsener junger Mann, denn
wenn er sich im Spiegel betrachtete,
bemerkte er nichts als gerade Linien.
Und weil er alles dieß genau wußte,
so fühlte er sich stets, wo viele
Menschen waren, höchst unbehag-
lich, wogegen er sich sonst mit
der größten Ungenirtheit bewegte,
wenn er feinen Rücken vollständig
gedeckt wußte.
Diese rückenungedeckte Lage schien
ihm jetzt von Minute zu Minute
unbequemer zu werden, denn seine
Augenbrauen traten immer näher
zusammen und seine Lippen preß-
ten sich immer fester auf einander.
Plötzlich bog er in eine enge Seiten-
gasse ein, wobei er murmelte: „Was
soll die dumme Völkerwanderung?
Was will das unausstehliche Volk
schon so früh die Straßen unsicher
machen? Ich muß schon den kleinen
Umweg machen, um diesem lang-
weiligen Gesindel zu entgehen —
Zeit genug habe ich noch!" Und
so vor sich hinmurmelnd bog er in
die fast menschenleere Seitenstraße ein.
Er war ein Mann von etwas
unter mittlerer Statur. Sein Kopf,
den er hoch trug, war im Verhält-
niß groß, das strohgelbe Haar kurz
geschoren. Das Gesicht hatte den
Ausdruck großer Intelligenz, Klug-
heit und Schlauheit. Das En-
semble desselben war eher hübsch als
häßlich, nur entsprachen die einzel-
nen Theile nicht alle den Regeln der
Schönheit. Die Augenbrauen hatten
eine dunklere Farbe als das Haupt-
haar und waren stark entwickelt.
Man würde jetzt fast mit Bestimmt-
heit bei diesem strohgelben Haar
wasferblaue Augen erwarten; zur
Ueberrafchung jeder Physiognomie
waren aber die Augen fast schwarz,

Ein seltsamer Besuch. (S. 78.)


Jllustr. Welt. XXIV. 3.

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