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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 2.1913

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Lorenz, Emil: Das Titanen-Motiv in der allgemeinen Mythologie: Darstellung und Analyse
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https://doi.org/10.11588/diglit.42095#0077

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Das Titanen=Motiv in der allgemeinen Mythologie

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nach unbedingter licentia nach, was, wie in jeder Ersatzbildung, als
Wiederkehr des Verdrängten zu betrachten ist.
Nach dieser eingehenden Analyse der griechischen Überlieferung
nur einige Hinweise auf die mannigfach abgewandelte Art und Weise,
wie Zensur und Verdrängung in den anderen Titanenmythen
gewaltet haben.
Unübertroffen ist die geniale Naivetät, mit der das Motiv
der Zerstreuung der titanischen Helden im polynesischen Mythus
angewandt wird, um sowohl die Sympathie des Mythenerzählers
zu markieren als auch mit bedeutungsvollem Mahnen die allgemein
menschlichen, sozialen Folgen einer derartigen Empörung gegen die
väterliche Autorität zu kennzeichnendiejenigen, die sich gegen ihren
Vater aufgelehnt haben, sind nicht imstande, unter sich Ordnung
zu halten, sagten wir bereits oben. Einen Schritt weiter geht
der biblische Turmbaumythus, indem er von Anfang an jede
Sympathie mit dem titanischen Unterfangen ablehnt. Hier sind aller-
dings auch theologische Einflüsse im Spiele, die von der geraden
Linie der Wirklichkeit immer etwas abseits führen. Schließlich wird
man an den Zügen, die wir im unmittelbaren Anschluß an die
Anführung der übrigen einzelnen Mythen im historischen Teil der
Arbeit herausgearbeitet haben, unschwer das Wirken der Zensur
erkennen, so besonders in der ägyptischen und in der yoruba-
mythe.
Nur die germanische Überlieferung erfordert aus mehreren
Gründen ein längeres Verweilen. Wie stellt sich dort die Sympathie
zu dem riesenhaften Urwesen ymir, aus dessen Leib die Welt ge-
bildet wurde? In der Snorra-Edda stoßen wir am Ende der Be-
schreibung ymirs auf die überraschende Frage: War ymir ein Gott?
und erhalten die Antwort: Wir halten ihn durchaus nicht für einen
Gott, denn er war böse wie alle seine Nachkommen. E. H. Meyer
(Germanische Mythologie, p. 446) bemerkt dazu: »Diese ernste,
ethische Frage hatte dem volkstümlichen Riesentum gegenüber keinen
Sinn, aber sie versetzt uns plötzlich wiederum mitten in die dirist-
liche Gedankenwelt, denn seit Plato bis auf den heutigen Tag war
man geneigt, in der LIrmaterie, die doch ymir vertritt, das Grund-
böse zu erkennen.« Auch hier scheint wieder wie oben <p. 48 f.) ganz
überflüssigerweise Christliches gewittert zu werden, wie jeder zu-
geben wird, der unserer Einreihung der Gestalt des ymir unter
die Welteltern seinen Beifall geschenkt hat. Das Schauspiel ist
keineswegs erfreulich, daß unsere Gelehrten den beklagenswerten
Umstand, daß die mythologische Überlieferung unserer eigenen Vor-
zeit erst aus nachchristlicher Zeit stammt, dazu benützen, das Llr-
spriingliche, das sie noch enthält, vor unseren Augen zu verschütten,
ymir und seine Nachkommen, die Jötune, sind durch Bestla, die
Gattin des Borr, die Vorfahren der titanischen Helden, der Äsen
Odin, Vili und Ve und darum vermöge des Affektmechanismus,
den wir anläßlich des griechischen Mythus kennen gelernt haben.
 
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