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Prof. Dr, Ernest Jones
Andrea del Sartos Kunst und der Einfluß seiner
Gattin.
Von Prof. Dr. ERNEST JONES <London>.
Für viele Generationen von Kunstforschern war es unerklär-
lich, warum Andrea del Sarto trotz seiner verblüffenden
Gaben auf allen Gebieten der Malerei doch kein Künstler
ersten Ranges wurde, Je sorgfältiger man seine Arbeiten im Detail
analysiert, um so größer wird das Erstaunen bei dem Beschauer,
vor allem bei dem Kenner. Seine Zeichenkunst ist unübertroffen
in ihrer Fehlerlosigkeit und spottet jeder Kritik,- er war der beste
Kolorist seiner Zeit und wurde in diesem Punkte nur von einigen
Mitgliedern der venezianischen Schule übertroffen,- er war ein
vollendeter Meister des Clair^obscur, seine Kompositionen waren
von nahezu vollkommener Harmonie, seine Fresken zeigen uns noch
heute das Höchste, was auf diesem Gebiete erreicht werden konnte,
und seine technische Geschicklichkeit wendete er mit einem Zart-
gefühl an, mit einer Sicherheit des Urteils und einem Geschmack,
die über jeden Vorwurf erhaben sind. Es ist daher nicht zu ver-
wundern, daß er selbst von einer kritischen Generation den Titel
»il pittore senza errori« erhielt. Abgesehen von diesen Fähigkeiten
müssen wir noch bedenken, daß er in Florenz lebte, zugleich mit
Raphael und Michelangelo, zu einer Zeit, da die Kunst der
Renaissance ihren Höhepunkt erreichte, bevor noch eines der bald
darauf eintretenden schweren Verfallszeichen vorhanden war, zu
einer Zeit, in der die Luft selbst von Inspiration erzitterte. Und
doch, trotz alledem stehen wir der überraschenden Tatsache gegen-
über, daß Andrea del Sarto niemals die wahre Größe in seiner
Kunst erreichte, daß seinen Werken etwas Wesentliches fehlt, das
sie jeden Anspruchs darauf beraubt, in einer Reihe mit denen der
ersten Meister zu stehen.
Einige Zitate von sachverständigen Beurteilern werden seine
Vorzüge und Mängel weit besser schildern, als ich mir schmeicheln
kann, es zu vermögen:
Sir Henry Layard1 hält sein frühestes uns erhaltenes Werk
<in der Annunziata), das aus seinem zweiundzwanzigsten Lebens-
jahre stammt, für »ein Beispiel für die höchste Stufe der Technik,
zu der man im Fresko gelangte« und auch Leader Scott meint
darüber, »man könnte es wohl zum Höchsten rechnen, was je im
Fresko erreicht wurde«2. Guinness schreibt über ihn: »Er übermittelt
uns die Geheimnisse der Natur mit einer Kraft, die alle Schwierige
keiten der Technik so vollkommen besiegt, daß die Anstrengung für
ihn nur ein Kinderspiel zu sein scheint, und seine Hervorbringungen
1 Layard in der 5. Ausgabe von Kuglers Handbook of Painting 1887,
art. II, p. 457.
2 Leader Scott, Andrea del Sarto. 1881, p, 92.
Prof. Dr, Ernest Jones
Andrea del Sartos Kunst und der Einfluß seiner
Gattin.
Von Prof. Dr. ERNEST JONES <London>.
Für viele Generationen von Kunstforschern war es unerklär-
lich, warum Andrea del Sarto trotz seiner verblüffenden
Gaben auf allen Gebieten der Malerei doch kein Künstler
ersten Ranges wurde, Je sorgfältiger man seine Arbeiten im Detail
analysiert, um so größer wird das Erstaunen bei dem Beschauer,
vor allem bei dem Kenner. Seine Zeichenkunst ist unübertroffen
in ihrer Fehlerlosigkeit und spottet jeder Kritik,- er war der beste
Kolorist seiner Zeit und wurde in diesem Punkte nur von einigen
Mitgliedern der venezianischen Schule übertroffen,- er war ein
vollendeter Meister des Clair^obscur, seine Kompositionen waren
von nahezu vollkommener Harmonie, seine Fresken zeigen uns noch
heute das Höchste, was auf diesem Gebiete erreicht werden konnte,
und seine technische Geschicklichkeit wendete er mit einem Zart-
gefühl an, mit einer Sicherheit des Urteils und einem Geschmack,
die über jeden Vorwurf erhaben sind. Es ist daher nicht zu ver-
wundern, daß er selbst von einer kritischen Generation den Titel
»il pittore senza errori« erhielt. Abgesehen von diesen Fähigkeiten
müssen wir noch bedenken, daß er in Florenz lebte, zugleich mit
Raphael und Michelangelo, zu einer Zeit, da die Kunst der
Renaissance ihren Höhepunkt erreichte, bevor noch eines der bald
darauf eintretenden schweren Verfallszeichen vorhanden war, zu
einer Zeit, in der die Luft selbst von Inspiration erzitterte. Und
doch, trotz alledem stehen wir der überraschenden Tatsache gegen-
über, daß Andrea del Sarto niemals die wahre Größe in seiner
Kunst erreichte, daß seinen Werken etwas Wesentliches fehlt, das
sie jeden Anspruchs darauf beraubt, in einer Reihe mit denen der
ersten Meister zu stehen.
Einige Zitate von sachverständigen Beurteilern werden seine
Vorzüge und Mängel weit besser schildern, als ich mir schmeicheln
kann, es zu vermögen:
Sir Henry Layard1 hält sein frühestes uns erhaltenes Werk
<in der Annunziata), das aus seinem zweiundzwanzigsten Lebens-
jahre stammt, für »ein Beispiel für die höchste Stufe der Technik,
zu der man im Fresko gelangte« und auch Leader Scott meint
darüber, »man könnte es wohl zum Höchsten rechnen, was je im
Fresko erreicht wurde«2. Guinness schreibt über ihn: »Er übermittelt
uns die Geheimnisse der Natur mit einer Kraft, die alle Schwierige
keiten der Technik so vollkommen besiegt, daß die Anstrengung für
ihn nur ein Kinderspiel zu sein scheint, und seine Hervorbringungen
1 Layard in der 5. Ausgabe von Kuglers Handbook of Painting 1887,
art. II, p. 457.
2 Leader Scott, Andrea del Sarto. 1881, p, 92.