Die Nacktheit in Sage und Dichtung
167
Die Nacktheit in Sage und Dichtung1.
Eine psychoanalytische Studie von Dr. OTTO RANK.
Nie hat die Jungfrau euern Dienst versäumt.
Und selten stieg mit ihrer Opferflamme
Zugleich ein Wunsch zu euerm Sitz empor:
Sie suchte jeden, der sich regen wollte.
Mit Scham und Angst bis unter das Bewußtsein
Hi nahzudrücken, denn sie warb allein
Um eure Gunst und nicht um eure Gaben.
Hebbel <Gyges und sein Ring).
Die vorliegende Untersuchung prätendiert keineswegs, eine auch
nur irgendwie abgeschlossene Behandlung des schier uner-
sdiöpflichen Themas der menschlichen Nadctheit zu versuchen,
hat sich auch keine erschöpfende Darstellung des weitreichenden und
vielverzweigten Problems des Nadcten in der Kunst zum Ziele ge-
setzt, ja, es nickt einmal als ihre Aufgabe betrachtet, der überaus
häufigen Verwertung des Motivs der Nadctheit in Dichtung und
Sage im einzelnen nachzugehen,- sie wird sich vielmehr damit be-
gnügen, einige besonders charakteristische und wie es scheint typische
Gestaltungen dieses Motivs in Sage und Dichtung hervorzuheben
und auf ihre psychologisdie Bedeutung sowie auf den Sinn ihrer
verschiedenartigen Gestaltungsformen zu prüfen. Diese vorwiegend
psychologische und weniger literarhistorische Tendenz der Ab-
handlung mag auch die eigenartige, von Gewohnheit und Erwartung
in gleicher Weise abweichende Methodik rechtfertigen, deren sie sich
zur Erreichung ihrer Absicht bedienen muß. Wir vermeiden es, die
offenkundigen sagenhaften und literarischen Zeugnisse einfach zu
sammeln, sehen unsere Aufgabe auch nicht in der Zusammen-
stellung und Vergleichung einzelner solcher Gruppen erschöpft,
sondern wollen an bestimmten Punkten der Entwicklung, wo deren
Linie etwa auffallende Übergänge oder deutliche Sprünge zeigt,
in die Tiefe zu dringen versuchen. Unsere LIntersuchung nimmt also
die Richtung in die psychologische Entwiddungsgeschichte der Motiv-
gestaltung hinein, anstatt sich längs der literarhistorischen Entwidc-
lungsfläche zu verbreiten. Lind wenn es uns dabei auch wie dem
Geologen ergehen mag, der von einem bestimmten Punkt der Erd-
oberfläche senkrecht in die Tiefe gräbt und dabei auf ganz ver-
schiedenartige, in Aufbau und Struktur scheinbar nicht zusammen-
gehörige Schichtungen stößt, so werden eben auch wir ein anscheinend
ziemlich disparates Material so weit es möglich ist in seinen Bezie-
hungen zueinander und auf eine gemeinsame Wurzel zu bestimmen
haben. Denn die Methode, deren wir uns zur Ermittlung der am
Aufbau der Phantasieprodukte beteiligten psychischen Triebkräfte
1 Auf Grund eines am III. Internationalen Kongreß für Psychoanalyse zu
Weimar am 22. September 1911 gehaltenen Vortrags.
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Die Nacktheit in Sage und Dichtung1.
Eine psychoanalytische Studie von Dr. OTTO RANK.
Nie hat die Jungfrau euern Dienst versäumt.
Und selten stieg mit ihrer Opferflamme
Zugleich ein Wunsch zu euerm Sitz empor:
Sie suchte jeden, der sich regen wollte.
Mit Scham und Angst bis unter das Bewußtsein
Hi nahzudrücken, denn sie warb allein
Um eure Gunst und nicht um eure Gaben.
Hebbel <Gyges und sein Ring).
Die vorliegende Untersuchung prätendiert keineswegs, eine auch
nur irgendwie abgeschlossene Behandlung des schier uner-
sdiöpflichen Themas der menschlichen Nadctheit zu versuchen,
hat sich auch keine erschöpfende Darstellung des weitreichenden und
vielverzweigten Problems des Nadcten in der Kunst zum Ziele ge-
setzt, ja, es nickt einmal als ihre Aufgabe betrachtet, der überaus
häufigen Verwertung des Motivs der Nadctheit in Dichtung und
Sage im einzelnen nachzugehen,- sie wird sich vielmehr damit be-
gnügen, einige besonders charakteristische und wie es scheint typische
Gestaltungen dieses Motivs in Sage und Dichtung hervorzuheben
und auf ihre psychologisdie Bedeutung sowie auf den Sinn ihrer
verschiedenartigen Gestaltungsformen zu prüfen. Diese vorwiegend
psychologische und weniger literarhistorische Tendenz der Ab-
handlung mag auch die eigenartige, von Gewohnheit und Erwartung
in gleicher Weise abweichende Methodik rechtfertigen, deren sie sich
zur Erreichung ihrer Absicht bedienen muß. Wir vermeiden es, die
offenkundigen sagenhaften und literarischen Zeugnisse einfach zu
sammeln, sehen unsere Aufgabe auch nicht in der Zusammen-
stellung und Vergleichung einzelner solcher Gruppen erschöpft,
sondern wollen an bestimmten Punkten der Entwicklung, wo deren
Linie etwa auffallende Übergänge oder deutliche Sprünge zeigt,
in die Tiefe zu dringen versuchen. Unsere LIntersuchung nimmt also
die Richtung in die psychologische Entwiddungsgeschichte der Motiv-
gestaltung hinein, anstatt sich längs der literarhistorischen Entwidc-
lungsfläche zu verbreiten. Lind wenn es uns dabei auch wie dem
Geologen ergehen mag, der von einem bestimmten Punkt der Erd-
oberfläche senkrecht in die Tiefe gräbt und dabei auf ganz ver-
schiedenartige, in Aufbau und Struktur scheinbar nicht zusammen-
gehörige Schichtungen stößt, so werden eben auch wir ein anscheinend
ziemlich disparates Material so weit es möglich ist in seinen Bezie-
hungen zueinander und auf eine gemeinsame Wurzel zu bestimmen
haben. Denn die Methode, deren wir uns zur Ermittlung der am
Aufbau der Phantasieprodukte beteiligten psychischen Triebkräfte
1 Auf Grund eines am III. Internationalen Kongreß für Psychoanalyse zu
Weimar am 22. September 1911 gehaltenen Vortrags.