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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 2.1913

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II.3
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Rank, Otto: Die Nacktheit in Sage und Dichtung, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.42095#0279

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Otto Rank

bedienen, ist so eigenartig und subtil, daß sie uns gestattet, oft auch
dort nodi Zusammenhänge zu sehen, wo sie die Alltags- und Schul-
psychologie kaum zu ahnen vermag. Mit ihrer Hilfe ist es bereits ge-
lungen, Sinn und Tendenz zahlreicher, bisher völlig unverstandener
psychopathologischer Erscheinungen aufzudecken und die so ge-
wonnenen Ergebnisse erfolgreich zur Vertiefung unserer Kenntnis des
normalen Seelenlebens zu verwerten, Außer verschiedenen Formen
von Psychoneurose (Hysterie, Zwangsneurose) und psychoseähnlichen
Zuständen (Paranoia, Dementia praecox) hat insbesondere das an
Sonderbarkeiten und Rätseln so reiche Traumleben der Menschen
die weitestgehende Aufklärung und das tiefste Verständnis durch
die Psychoanalyse gewonnen und heute wissen wir bereits auf
Grund eingehender Untersuchungen, daß auch die künstlerische Pro-
duktion des einzelnen sowie ganzer Völker (Mythen, Märdien,
Sagen) im wesentlichen nach denselben psychologischen Gesetzen
des unbewußten Seelenlebens vor sich geht, wie wir sie aus dem
Studium des Traumlebens und der neurotischen Zustände kennen.
Wir befinden uns also auf völlig gesichertem und wissenschaftlich
durchaus einwandfreiem Boden, wenn wir auch den Entwicklungs-
gang und Gestaltungswandel des Motivs der Nacktheit in Sage und
Dichtung auf Grund unserer psychoanalytischen Einsichten zu ver-
folgen und zu verstehen suchen. Was wir etwa durch die Reihe
der eingangs angeführten konzentrischen Einschränkungen unseres
Themas in der Breitendimension verlieren, das gewinnen wir reich-
lich wieder durch unerwartete Einsichten ln der Tiefendimension.
Dieser einzigartige Vorzug der psychoanalytischen Methodik führt
aber zu einer weiteren und vielleicht der paradoxesten Einschränkung,
zu der sich unser Thema nötigen läßt. Denn es wird in den fol-
genden Ausführungen überhaupt weniger vom Motiv der Nacktheit
als von gewissen psychischen Verkleidungen desselben die Rede sein,
die dem Unkundigen zunächst außer Zusammenhang mit dem Thema
der Nadctheit zu stehen scheinen. Es erklärt sich dies daraus, daß
die erotische Nadctheit, die ja allein Gegenstand poetischer Be-
handlung geworden ist, im Verlaufe der Kulturentwicklung in den
keuschen und schamhaften Regungen unseres Seelenlebens mächtige
Widerstände gefunden hat, welche unverhüllte Äußerungen der
Entblößungslust wir auch in rein psychischer Form nicht mehr dulden
und oft ziemlich weitgehende Entstellungen dieser erotischen Gelüste
durchzusetzen wissen. Findet diese oft bis zur Unkenntlichkeit ge-
triebene Entstellung der bewußtseinsfähigen Phantasieprodukte ihr
gut verstandenes psychologisches Gegenstüdc in der Unverständlich-
keit unserer Traumgebilde, so zeigt anderseits das psychoanalytische
Verständnis der neurotischen Symptombildung, daß die scheinbare
Absurdität vieler psychopathischer Phänomene audi nur einem
Übermaß solch verdrängender Tendenzen im Seelenleben zuzu-
schreiben ist, die gleichsam im Namen der Kultur jede allzu offene
Äußerung primitiver Triebe, also vor allem der kraß eigensüchtigen
 
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