Die Nacktheit in Sage und Dichtung
409
Die Nacktheit in Sage und Dichtung.
Eine psychoanalytische Studie von Dr. OTTO RANK.
II.
»Die Götter sind gerecht: aus unsern Lüsten
Erschaffen sie das Werkzeug, uns zu geißeln«.
Shakespeare (»Lear«, V, 3>.
Wir wenden uns nunmehr der zweiten, der Zeigelust kom^
plementären Triebregung, nämlich der Schaulust, zu, die
sich auf den Anblick das Nackten richtet. Auch hier lassen
sich wieder zwei Motivgestaltungen in gesonderter Gruppierung
behandeln, obwohl sich nicht selten beide beisammenfinden oder
ineinander übergehen. Und wieder entspricht die 1. vorwiegend
sagenhafte mit ihren organischen Ausdrucksmitteln und neurotischen
Mechanismen einem scharf umschriebenen pathologischen Krankheits^
bilde, ganz wie das Motiv des Aussatzes den neurotischen Aus-
schlägen, während die 2. dichterische rein auf dem psychischen
Gebiete der Phantasie verbleibt und sich dadurch — ganz wie die
schamhafte Hemmung — dem Traumcharakter annähert.
1.
»Nun beim Himmel! dir wäre besser
Du rissest dir die Augen aus, als daß sie
Der Zunge anvertrauten, was sie sahn,
Kleist (»Käthchen«).
Auch über die typische Verdrängungsform der erotisch betonten
Schaulust sind wir durch eine Arbeit Freuds1 unterrichtet, in welcher
darauf hingewiesen wird, daß gewissen neurotischen Sehstörungen
die Idee der Talion zugrunde liege, d. h, eine von den Hem-
mungen gegen die Schaulust gleichsam geforderte Bestrafung der
Organe, die durch den Anblick von etwas Verbotenem (Nacktem)
oder dem bloßen Wunsche danach gesündigt haben.2 Dieser psychische
Mechanismus wird nach Freuds grundlegender und in gleicher
Weise für die Erogenität der Haut (Ausschlag) geltenden Auffassung
dadurch ermöglicht, dass unsere Sinnesorgane nicht nur den reinen
Interessen des Ich, sondern auch den oft genug damit unverträglichen
sexuellen Regungen zu dienen haben und daß diese Doppelfunktion
nicht selten zu Konflikten Anlaß gibt, die zu (neurotischen) Stö-
1 Die psychogene Sehstörung in psychoanalytischer Auffassung (»Ärztliche
Standeszeitung« 1910, Nr. 9).
2 »Dafür, daß Ham mit seinen Augen die Blöße seines Vaters schaute,
wurden seine Augen rot, dafür, daß er mit seinen Lippen darüber sprach, wurden
seine Lippen schief . . . , dafür, daß er seines Vaters Blöße nicht zugedeckt hatte,
sollte er selber nackend herumgehen mit bloßer Scham,- denn dies ist des Herrn
Gesetz: Maß für Maß.« (»Die Sagen der Juden«, Frankfurt 1913, p. 229).
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Die Nacktheit in Sage und Dichtung.
Eine psychoanalytische Studie von Dr. OTTO RANK.
II.
»Die Götter sind gerecht: aus unsern Lüsten
Erschaffen sie das Werkzeug, uns zu geißeln«.
Shakespeare (»Lear«, V, 3>.
Wir wenden uns nunmehr der zweiten, der Zeigelust kom^
plementären Triebregung, nämlich der Schaulust, zu, die
sich auf den Anblick das Nackten richtet. Auch hier lassen
sich wieder zwei Motivgestaltungen in gesonderter Gruppierung
behandeln, obwohl sich nicht selten beide beisammenfinden oder
ineinander übergehen. Und wieder entspricht die 1. vorwiegend
sagenhafte mit ihren organischen Ausdrucksmitteln und neurotischen
Mechanismen einem scharf umschriebenen pathologischen Krankheits^
bilde, ganz wie das Motiv des Aussatzes den neurotischen Aus-
schlägen, während die 2. dichterische rein auf dem psychischen
Gebiete der Phantasie verbleibt und sich dadurch — ganz wie die
schamhafte Hemmung — dem Traumcharakter annähert.
1.
»Nun beim Himmel! dir wäre besser
Du rissest dir die Augen aus, als daß sie
Der Zunge anvertrauten, was sie sahn,
Kleist (»Käthchen«).
Auch über die typische Verdrängungsform der erotisch betonten
Schaulust sind wir durch eine Arbeit Freuds1 unterrichtet, in welcher
darauf hingewiesen wird, daß gewissen neurotischen Sehstörungen
die Idee der Talion zugrunde liege, d. h, eine von den Hem-
mungen gegen die Schaulust gleichsam geforderte Bestrafung der
Organe, die durch den Anblick von etwas Verbotenem (Nacktem)
oder dem bloßen Wunsche danach gesündigt haben.2 Dieser psychische
Mechanismus wird nach Freuds grundlegender und in gleicher
Weise für die Erogenität der Haut (Ausschlag) geltenden Auffassung
dadurch ermöglicht, dass unsere Sinnesorgane nicht nur den reinen
Interessen des Ich, sondern auch den oft genug damit unverträglichen
sexuellen Regungen zu dienen haben und daß diese Doppelfunktion
nicht selten zu Konflikten Anlaß gibt, die zu (neurotischen) Stö-
1 Die psychogene Sehstörung in psychoanalytischer Auffassung (»Ärztliche
Standeszeitung« 1910, Nr. 9).
2 »Dafür, daß Ham mit seinen Augen die Blöße seines Vaters schaute,
wurden seine Augen rot, dafür, daß er mit seinen Lippen darüber sprach, wurden
seine Lippen schief . . . , dafür, daß er seines Vaters Blöße nicht zugedeckt hatte,
sollte er selber nackend herumgehen mit bloßer Scham,- denn dies ist des Herrn
Gesetz: Maß für Maß.« (»Die Sagen der Juden«, Frankfurt 1913, p. 229).