Psychoanalytische Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie
175
Psychoanalytische Anmerkungen zur Geschichte der
Philosophie1.
Von Dr. ALFR. Frh. v. WINTERSTEIN.
»In der ,Kalewafa', einem finnischen Epos, kehrt
ein eigentümlicher Vorgang von auffallender und selt-
samer Bedeutung einigemale wieder. Der alte Held
Wäinämöinen unterwirft sich hier die elementarischen
Hindernisse, die er zu besiegen hat, nach vielen ver*
geblichen Versuchen und Bemühungen endlich durch eine
beschwörende Formel, die in jedem Fall von geradezu
furchtbar bezwingendem Eindruck auf seine phantasti-
schen Gegner ist: er spricht ihnen nämlich die Drohung
aus, ihren Ursprung zu singen.«2
Man wird gut tun, bei der Aufgabe, die ich mir auf den
folgenden Blättern setze, ein Zweifaches zu unterscheiden;
einerseits wird es sich darum handeln — ohne irgendwie
ins Detail einzugehen — festzustellen, was für wesentliche Bestand*
teile in den Lehren der Philosophen nicht durch objektive Erkenntnis
gefordert, sondern durch unbewußte Wünsche bedingt erscheinen
<diese Teiluntersuchung wird in die Frage auslaufen, welche Welt*
anschauung sich auf dem Boden der Psychoanalyse mit Fug er*
heben darf),- anderseits wird in einem zweiten Abschnitt, wenn
auch sachgemäß nicht streng geschieden, der Versuch gemacht
werden, die unbewußten Grundlagen der Persönlichkeit des Philosophen
zu skizzieren. Vorab bemerke ich noch dieses: Festhaltend an dem
von der Psychoanalyse vertretenen Prinzip der Schichtenbildung im
Seelenleben, glaube ich keineswegs, mit dem Aufzeigen der untersten
Schichte eine erschöpfende Konstitutionsformel <um einen Terminus
aus der Chemie zu gebrauchen) des philosophischen Typus zu bieten,-
ferner lege ich schon hier gegen den etwa erhobenen Einwand der
Unvollständigkeit Verwahrung ein,- man wird von einem einzelnen
nicht erwarten dürfen, daß er einen Urwald fällt, und sich zufrieden*
geben müssen, wenn seine Axt da und dort eine Lichtung ge*
schaffen hat, die einen freieren Ausblick ermöglicht.
I. Die Systeme,
Daß es im weiten Felde der Geschichte der Philosophie nur
einige wenige, stets wiederkehrende Weltanschauungen — Vari*
ationen im einzelnen abgerechnet — gibt, wird den nicht ver*
wundern, der vom Studium des Unbewußten und seiner geringen
Anzahl pathogener Komplexe herkommt.
Eine historische Übersicht über die Entwicklung des Problems
1 In Erweiterung eines im Dezember 1912 in der »Wiener psychoanalytischen
Vereinigung« gehaltenen Vortrages.
2 Zit, nach L. Ziegler, Der abendländische Rationalismus und der Eros.
Diederihs, 1905, p. 216.
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Psychoanalytische Anmerkungen zur Geschichte der
Philosophie1.
Von Dr. ALFR. Frh. v. WINTERSTEIN.
»In der ,Kalewafa', einem finnischen Epos, kehrt
ein eigentümlicher Vorgang von auffallender und selt-
samer Bedeutung einigemale wieder. Der alte Held
Wäinämöinen unterwirft sich hier die elementarischen
Hindernisse, die er zu besiegen hat, nach vielen ver*
geblichen Versuchen und Bemühungen endlich durch eine
beschwörende Formel, die in jedem Fall von geradezu
furchtbar bezwingendem Eindruck auf seine phantasti-
schen Gegner ist: er spricht ihnen nämlich die Drohung
aus, ihren Ursprung zu singen.«2
Man wird gut tun, bei der Aufgabe, die ich mir auf den
folgenden Blättern setze, ein Zweifaches zu unterscheiden;
einerseits wird es sich darum handeln — ohne irgendwie
ins Detail einzugehen — festzustellen, was für wesentliche Bestand*
teile in den Lehren der Philosophen nicht durch objektive Erkenntnis
gefordert, sondern durch unbewußte Wünsche bedingt erscheinen
<diese Teiluntersuchung wird in die Frage auslaufen, welche Welt*
anschauung sich auf dem Boden der Psychoanalyse mit Fug er*
heben darf),- anderseits wird in einem zweiten Abschnitt, wenn
auch sachgemäß nicht streng geschieden, der Versuch gemacht
werden, die unbewußten Grundlagen der Persönlichkeit des Philosophen
zu skizzieren. Vorab bemerke ich noch dieses: Festhaltend an dem
von der Psychoanalyse vertretenen Prinzip der Schichtenbildung im
Seelenleben, glaube ich keineswegs, mit dem Aufzeigen der untersten
Schichte eine erschöpfende Konstitutionsformel <um einen Terminus
aus der Chemie zu gebrauchen) des philosophischen Typus zu bieten,-
ferner lege ich schon hier gegen den etwa erhobenen Einwand der
Unvollständigkeit Verwahrung ein,- man wird von einem einzelnen
nicht erwarten dürfen, daß er einen Urwald fällt, und sich zufrieden*
geben müssen, wenn seine Axt da und dort eine Lichtung ge*
schaffen hat, die einen freieren Ausblick ermöglicht.
I. Die Systeme,
Daß es im weiten Felde der Geschichte der Philosophie nur
einige wenige, stets wiederkehrende Weltanschauungen — Vari*
ationen im einzelnen abgerechnet — gibt, wird den nicht ver*
wundern, der vom Studium des Unbewußten und seiner geringen
Anzahl pathogener Komplexe herkommt.
Eine historische Übersicht über die Entwicklung des Problems
1 In Erweiterung eines im Dezember 1912 in der »Wiener psychoanalytischen
Vereinigung« gehaltenen Vortrages.
2 Zit, nach L. Ziegler, Der abendländische Rationalismus und der Eros.
Diederihs, 1905, p. 216.