Psychoanalytische Bemerkungen über den zynischen Witz
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Psychoanalytische Bemerkungen über den zynischen
Witz1.
Von Dr. THEODOR REIK <Wien>.
»Ergreift ihn, der das Wort gesprochen,
und den, an den's gerichtet war.«
Die folgenden Bemerkungen beanspruchen nicht, das Problem
des zynischen Witzes zu lösen, sondern sie wollen nur einige
Charakteristika dieser Witzesart hervorheben, Professor Freud
reiht den zynischen Witz in den tendenziösen ein2. Als sein spezifi-
sches Merkmal werden besonders seine Angriffsobjekte hervor-
gehoben: »Institutionen oder Personen, sofern sie Träger derselben
sind, Satzungen der Moral oder Religion, Lebensanschauungen, die
ein solches Ansehen genießen, daß der Einspruch gegen sie nicht
anders als in der Maske des Witzes, und zwar eines durch seine
Fassade gededcten Witzes auftreten kann.« Wir haben nun schon
ein bedeutsames Kennzeichen des zynischen Witzes: er richtet sich
gegen etwas allgemeines. Unter seinen Objekten kommt besonders
die Ehe in Betracht. Er vertritt im allgemeinen die Lebenslust des
Individuums gegen einschränkende Mächte. Der zynische Witz fügt
sich den seelischen Mechanismen ein, die Freud als diejenigen, welche
bei der Psychogenese des Witzes überhaupt wirksam sind, aufgedeckt
hat: auch hier wird ein vorbewußter Gedanke für einen Augen-
blick der unbewußten Behandlung überlassen und dann durch das
Bewußtsein erfaßt.
Ein kleines Witzbeispiel soll uns helfen, den zynischen Witz
vom naiven abzugrenzen.
Eine Gouvernante erzählt ihrem kleinen Zögling: »Denk dir
einmal, Franzi, wie ich gestern so spät abends von dir weggehe,
steht beim Hause ein verdächtig aussehender Mann. O, wie ich ge^
laufen bin!« Franzi: »Nun — und hast du ihn bekommen?«
Worüber lachen wir hier? Der erste Eindrude wird sein: das
ist ein komisches Mißverständnis. Das Fräulein ist vor Angst davon-
gelaufen, das Kind kennt offenbar die Gründe oder Voraussetzungen
jener Angst nicht und glaubt, es handle sich um ein Erreichenwollen,
um eine Art Fangspiel. Die Voraussetzungen dieser Angst, welche
dem Kleinen fehlen, müssen von der Art sein, daß er sie noch nicht
erkannt hat. Er sieht nicht ein, was das Fräulein von dem Manne
zu fürchten hat. Und doch scheint seine Antwort für uns einen
verborgenen Sinn einzuschließen. Sie scheint irgendwie zu der Situation
zu passen. Soweit die Fassade des Witzes,- wir gelangen weiter,
wenn wir den Gründen dieser Angst nachgehen.
1 Aus einem Vortrage über die Psychologie des Zynismus, gehalten in
der Wiener psychoanalytischen Vereinigung am 29. Mai 1912.
2 Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. 2. Aufh 1912.
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Psychoanalytische Bemerkungen über den zynischen
Witz1.
Von Dr. THEODOR REIK <Wien>.
»Ergreift ihn, der das Wort gesprochen,
und den, an den's gerichtet war.«
Die folgenden Bemerkungen beanspruchen nicht, das Problem
des zynischen Witzes zu lösen, sondern sie wollen nur einige
Charakteristika dieser Witzesart hervorheben, Professor Freud
reiht den zynischen Witz in den tendenziösen ein2. Als sein spezifi-
sches Merkmal werden besonders seine Angriffsobjekte hervor-
gehoben: »Institutionen oder Personen, sofern sie Träger derselben
sind, Satzungen der Moral oder Religion, Lebensanschauungen, die
ein solches Ansehen genießen, daß der Einspruch gegen sie nicht
anders als in der Maske des Witzes, und zwar eines durch seine
Fassade gededcten Witzes auftreten kann.« Wir haben nun schon
ein bedeutsames Kennzeichen des zynischen Witzes: er richtet sich
gegen etwas allgemeines. Unter seinen Objekten kommt besonders
die Ehe in Betracht. Er vertritt im allgemeinen die Lebenslust des
Individuums gegen einschränkende Mächte. Der zynische Witz fügt
sich den seelischen Mechanismen ein, die Freud als diejenigen, welche
bei der Psychogenese des Witzes überhaupt wirksam sind, aufgedeckt
hat: auch hier wird ein vorbewußter Gedanke für einen Augen-
blick der unbewußten Behandlung überlassen und dann durch das
Bewußtsein erfaßt.
Ein kleines Witzbeispiel soll uns helfen, den zynischen Witz
vom naiven abzugrenzen.
Eine Gouvernante erzählt ihrem kleinen Zögling: »Denk dir
einmal, Franzi, wie ich gestern so spät abends von dir weggehe,
steht beim Hause ein verdächtig aussehender Mann. O, wie ich ge^
laufen bin!« Franzi: »Nun — und hast du ihn bekommen?«
Worüber lachen wir hier? Der erste Eindrude wird sein: das
ist ein komisches Mißverständnis. Das Fräulein ist vor Angst davon-
gelaufen, das Kind kennt offenbar die Gründe oder Voraussetzungen
jener Angst nicht und glaubt, es handle sich um ein Erreichenwollen,
um eine Art Fangspiel. Die Voraussetzungen dieser Angst, welche
dem Kleinen fehlen, müssen von der Art sein, daß er sie noch nicht
erkannt hat. Er sieht nicht ein, was das Fräulein von dem Manne
zu fürchten hat. Und doch scheint seine Antwort für uns einen
verborgenen Sinn einzuschließen. Sie scheint irgendwie zu der Situation
zu passen. Soweit die Fassade des Witzes,- wir gelangen weiter,
wenn wir den Gründen dieser Angst nachgehen.
1 Aus einem Vortrage über die Psychologie des Zynismus, gehalten in
der Wiener psychoanalytischen Vereinigung am 29. Mai 1912.
2 Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. 2. Aufh 1912.