] M A G O
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSyCHCü
ANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD
SCHRIFTLEITUNG:
II. 2. DR. OTTO RANK / DR. HANNS SACHS 1913
Schopenhauer.
Versuch einer Psychoanalyse des Philosophen h
Von Dr. EDUARD HITSCHMANN.
»Schopenhauer idealisierte das Mh>
leiden und die Keuschheit, weil er am
meisten von dem Gegenteile litt.«
Nietzsche.
Die Psychoanalyse hat schon mehrfach mit Erfolg versucht, in
die Psychologie des Dichters und Künstlers ebenso einzu-
dringen, wie in das Seelenleben des Normalen und des Neu-
rotikers. In diese Kette reiht sich der Philosoph insoferne ein, als
durchaus nidit alle Vertreter dieser Wissenschaft als exakte Forscher
zu betrachten sind, vielmehr der produktive Philosoph im engeren
Sinne, der ein eigenes System aufbaut, dem intuitiv schaffenden
Künstler oft näher steht, als es nach dem Material, in dem er
arbeitet, den Anschein haben mag. Wir stoßen in der Geschichte der
Philosophie immer wieder auf unabhängige geistige Persönlichkeiten,
die den unbewußten Drang in sich fühlen, ein System aus sidi
selbst heraus zu entwerfen, das die Welt deuten, das Rätselhafte
des Daseins erklären sollte und nach ihrer Überzeugung diese Pro-
bleme auch endgiltig gelöst hatte <Metaphysiker>. Jeder dieser pro-
duktiven Philosophen fand seine Gemeinde und hatte seine Wirkung
auf ein gewisses Zeitalter. So erinnert die Geschichte der Philosophie
an die Geschichte der Religion, und wie den Atheisten nur diese
noch interessiert, so beschleicht einen beim Überblicken der Jahr-
tausende fortgesetzten philosophischen Spekulationen eine Skepsis
gegenüber jedem doch nur vergänglidi gebliebenem System. Schon
darin, daß jeder Philosoph seine Vorgänger, so weit er nicht auf ihren
Schultern stehend höher gelangt, zu desavouieren sucht, zeigt sich
1 Nah einem Vortrag in der »Wiener psychoanalytischen Vereinigung«
<8. Mai 1912).
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSyCHCü
ANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD
SCHRIFTLEITUNG:
II. 2. DR. OTTO RANK / DR. HANNS SACHS 1913
Schopenhauer.
Versuch einer Psychoanalyse des Philosophen h
Von Dr. EDUARD HITSCHMANN.
»Schopenhauer idealisierte das Mh>
leiden und die Keuschheit, weil er am
meisten von dem Gegenteile litt.«
Nietzsche.
Die Psychoanalyse hat schon mehrfach mit Erfolg versucht, in
die Psychologie des Dichters und Künstlers ebenso einzu-
dringen, wie in das Seelenleben des Normalen und des Neu-
rotikers. In diese Kette reiht sich der Philosoph insoferne ein, als
durchaus nidit alle Vertreter dieser Wissenschaft als exakte Forscher
zu betrachten sind, vielmehr der produktive Philosoph im engeren
Sinne, der ein eigenes System aufbaut, dem intuitiv schaffenden
Künstler oft näher steht, als es nach dem Material, in dem er
arbeitet, den Anschein haben mag. Wir stoßen in der Geschichte der
Philosophie immer wieder auf unabhängige geistige Persönlichkeiten,
die den unbewußten Drang in sich fühlen, ein System aus sidi
selbst heraus zu entwerfen, das die Welt deuten, das Rätselhafte
des Daseins erklären sollte und nach ihrer Überzeugung diese Pro-
bleme auch endgiltig gelöst hatte <Metaphysiker>. Jeder dieser pro-
duktiven Philosophen fand seine Gemeinde und hatte seine Wirkung
auf ein gewisses Zeitalter. So erinnert die Geschichte der Philosophie
an die Geschichte der Religion, und wie den Atheisten nur diese
noch interessiert, so beschleicht einen beim Überblicken der Jahr-
tausende fortgesetzten philosophischen Spekulationen eine Skepsis
gegenüber jedem doch nur vergänglidi gebliebenem System. Schon
darin, daß jeder Philosoph seine Vorgänger, so weit er nicht auf ihren
Schultern stehend höher gelangt, zu desavouieren sucht, zeigt sich
1 Nah einem Vortrag in der »Wiener psychoanalytischen Vereinigung«
<8. Mai 1912).