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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 2.1913

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II.3
DOI article:
Freud, Sigmund: Das Motiv der Kästchenwahl
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https://doi.org/10.11588/diglit.42095#0277

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Sigm. Freud

will hören, wie sehr er geliebt wird. Nun denke man an die er^
schütternde letzte Szene, einen der Höhepunkte der Tragik im
modernen Drama: Lear trägt den Leichnam der Cordelia auf die
Bühne. Cordelia ist der Tod. Wenn man die Situation umkehrt,
wird sie uns verständlich und vertraut. Es ist die Todesgöttin, die
den verstorbenen Helden vom Kampfplatze wegträgt, wie die Wal-
küre in der deutschen Mythologie. Ewige Weisheit im Gewand des
uralten Mythus rät dem alten Manne, der Liebe zu entsagen, den
Tod zu wählen, sich mit der Notwendigkeit des Sterbens zu be-
freunden,
Der Dichter bringt uns das alte Motiv näher, indem er die
Wahl zwischen den drei Schwestern von einem Gealterten und
Sterbenden vollziehen läßt. Die regressive Bearbeitung, die er so mit
dem durch Wunsch Verwandlung entstellten Mythus vorgenommen,
läßt dessen alten Sinn so weit durchschimmern, daß uns vielleicht
auch eine flächenhafte, allegorische Deutung der drei Frauengestalten
des Motivs ermöglicht wird. Man könnte sagen, es seien die drei
für den Mann unvermeidlichen Beziehungen zum Weibe, die hier
dargestellt sind: Die Gebärerin, die Genossin und die Verderberin.
Oder die drei Formen, zu denen sich ihm das Bild der Mutter im
Lauf des Lebens wandelt: Die Mutter selbst, die Geliebte, die er
nach deren Ebenbild gewählt, und zuletzt die Mutter Erde, die ihn
wieder aufnimmt. Der alte Mann aber hascht vergebens nach der
Liebe des Weibes, wie er sie zuerst von der Mutter empfangen,-
nur die dritte der Schicksalsfrauen, die schweigsame Todesgöttin,
wird ihn in ihre Arme nehmen.
 
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