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Lou Andreas-Salome
lichkeit, deren Süße ein Kind zuerst zu kosten bekam. Gern stelle ich
es mir daher audi weiterhin so vor, wie die Psychoanalyse es plausibel
gemacht hat: daß schon in den Fragen der Kinder »wo sie her-
kommen«, in der sexuellen Neugier, welcher der Gott und die
letzten Dinge oft so verblüffend nahe liegen, schon denkerischer und
zärtlicher Drang ununterscheidbar eins bilden, und daß auch der ab-
geklärteste Wissenstrieb noch aus dieser erd warmen Wurzel hoch-
wuchs. Denken wie Leben, Erkenntnis wie Geschlecht, in ihren
auseinanderlaufenden Tendenzen, treffen zusammen in diesem ge-
meinsamen LIrsprung, und die Frage danach, wer und woher wir
sind, erwacht in uns als die erste volle Glut des Bewußtwerdens
davon, daß wir sind.
Wenn an derartigen Einzelheiten, von denen Entwicklungen
ihren Ausgang nehmen, Neurotiker, also lebensgehemmte Menschen,
ihre dauernden Fixierungen erfahren, so erscheint das wie ein
ahnungsvoller vergeblicher Immerwiederversuch, den doch alles ent-
haltenden Lebenssdirein selber darin zu eröffnen, aufzubrechen, lind
umgekehrt auch verlieren die Tatsächlichkeiten solcher Art sich für das
Gedächtnis vielleicht um so spurloser, je freigebiger die Lebensfülle,
die gleichsam sinnbildlich darin zusammengefaltet lag, sich ausbreiten
und damit ihr eigenes Bild sorglos in nichts zerstieben lassen durfte.
So würde es mir schwer fallen, für den ganz und gar verloren ge-
gangenen Gott noch etwas Spezielles, noch von ihm selbst direkt
Herrührendes, im Verlauf des späteren Erlebens anzuführen — es seien
denn zwei feine leise Wirkungen, die sich nie völlig verflüchtigt haben,
sondern beharren wie ein Stück Kindheit — eine negative und eine
positive. Die negative als ein Gefühlsvorurteil (womit ich sagen will: auch
unabhängig noch vom jeweiligen Einzelurteil) wider alles Schuldbewußt-
sein, wie wenn das Relative an allen Verboten und Geboten, eine
Verneinung ihrer letzten Instanz, immer fühlbar und gegenwärtig
bliebe. Die positive als das beglückende entgegengesetzte Vorurteil:
wie wenn alle Freude, auch die relativste noch, durchaus darüber
hinaus zu werten sei, ungefähr so, als habe sie eine ganze Ewig-
keit rund um sich, sie zu sanktionieren, und in endlosen Jubelchören
das Wort Spinozas zu variieren: »Freude ist Vollkommenheit.«
Sind nun beide Vorurteile gleichzusetzen mit nicht vollgelösten
Fixierungen an Kindereindrücke — von etwas gar zu göttlicher
Nachsicht vielleicht und von Spielen mit unsichtbarem Spielzeug
— so haben sie sich doch nicht als Hemmungen kundtun können,
sondern haben als Förderungen der Lebenszuversicht, sei des Da-
seins Inhalt im übrigen welcher er wolle, gewirkt. Um das be-
greiflich zu finden, muß man vielleicht dessen gedenken, wie auch
umgekehrt dann, wenn Lebenszuversicht am höchsten ansteigt,
oder wenn das Leben sich ganz sich selber adäquat, d. h. schöpfe-
risch, betätigt, es wiederum Stimmungen zugänglich ist, die sich den
religiösen nähern. Man hat viel davon gesprochen, daß da, wo
sexuell, also dem LIrsinn nach, Leben gezeugt wird, Mensch und
Lou Andreas-Salome
lichkeit, deren Süße ein Kind zuerst zu kosten bekam. Gern stelle ich
es mir daher audi weiterhin so vor, wie die Psychoanalyse es plausibel
gemacht hat: daß schon in den Fragen der Kinder »wo sie her-
kommen«, in der sexuellen Neugier, welcher der Gott und die
letzten Dinge oft so verblüffend nahe liegen, schon denkerischer und
zärtlicher Drang ununterscheidbar eins bilden, und daß auch der ab-
geklärteste Wissenstrieb noch aus dieser erd warmen Wurzel hoch-
wuchs. Denken wie Leben, Erkenntnis wie Geschlecht, in ihren
auseinanderlaufenden Tendenzen, treffen zusammen in diesem ge-
meinsamen LIrsprung, und die Frage danach, wer und woher wir
sind, erwacht in uns als die erste volle Glut des Bewußtwerdens
davon, daß wir sind.
Wenn an derartigen Einzelheiten, von denen Entwicklungen
ihren Ausgang nehmen, Neurotiker, also lebensgehemmte Menschen,
ihre dauernden Fixierungen erfahren, so erscheint das wie ein
ahnungsvoller vergeblicher Immerwiederversuch, den doch alles ent-
haltenden Lebenssdirein selber darin zu eröffnen, aufzubrechen, lind
umgekehrt auch verlieren die Tatsächlichkeiten solcher Art sich für das
Gedächtnis vielleicht um so spurloser, je freigebiger die Lebensfülle,
die gleichsam sinnbildlich darin zusammengefaltet lag, sich ausbreiten
und damit ihr eigenes Bild sorglos in nichts zerstieben lassen durfte.
So würde es mir schwer fallen, für den ganz und gar verloren ge-
gangenen Gott noch etwas Spezielles, noch von ihm selbst direkt
Herrührendes, im Verlauf des späteren Erlebens anzuführen — es seien
denn zwei feine leise Wirkungen, die sich nie völlig verflüchtigt haben,
sondern beharren wie ein Stück Kindheit — eine negative und eine
positive. Die negative als ein Gefühlsvorurteil (womit ich sagen will: auch
unabhängig noch vom jeweiligen Einzelurteil) wider alles Schuldbewußt-
sein, wie wenn das Relative an allen Verboten und Geboten, eine
Verneinung ihrer letzten Instanz, immer fühlbar und gegenwärtig
bliebe. Die positive als das beglückende entgegengesetzte Vorurteil:
wie wenn alle Freude, auch die relativste noch, durchaus darüber
hinaus zu werten sei, ungefähr so, als habe sie eine ganze Ewig-
keit rund um sich, sie zu sanktionieren, und in endlosen Jubelchören
das Wort Spinozas zu variieren: »Freude ist Vollkommenheit.«
Sind nun beide Vorurteile gleichzusetzen mit nicht vollgelösten
Fixierungen an Kindereindrücke — von etwas gar zu göttlicher
Nachsicht vielleicht und von Spielen mit unsichtbarem Spielzeug
— so haben sie sich doch nicht als Hemmungen kundtun können,
sondern haben als Förderungen der Lebenszuversicht, sei des Da-
seins Inhalt im übrigen welcher er wolle, gewirkt. Um das be-
greiflich zu finden, muß man vielleicht dessen gedenken, wie auch
umgekehrt dann, wenn Lebenszuversicht am höchsten ansteigt,
oder wenn das Leben sich ganz sich selber adäquat, d. h. schöpfe-
risch, betätigt, es wiederum Stimmungen zugänglich ist, die sich den
religiösen nähern. Man hat viel davon gesprochen, daß da, wo
sexuell, also dem LIrsinn nach, Leben gezeugt wird, Mensch und