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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 2.1913

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Reik, Theodor: Psychoanalytische Bemerkungen über den zynischen Witz
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https://doi.org/10.11588/diglit.42095#0602

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Psychoanalytische Bemerkungen über den zynischen Witz

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den anderen Formen des Witzes wird gerade beim zynischen dieses
Moment in Betracht kommen, denn es stellen sich dem Durchbrechen
seiner Äußerungen die stärksten moralischen Hemmungen in den Weg.
In ihm werden wie in jedem Schaffen Reflexion und Gefühls-
leben, Intellekt und Gemüt zu einer unzerreißbaren, organischen
Einheit.
Man kann oft sagen hören, daß Zynismus nur enttäuschter
Idealismus sei. Verlegen wir diese Desillusionierung in die Kinder-
zeit und räumen wir den späteren Enttäuschungen nur eine sekun-
däre Bedeutung als auslösende Momente ein, so hat diese Ansicht
gewiß eine Berechtigung. Dem Witze fehlt, wie Kuno Fischer
sagt,1 »phrenologisch zu reden: das Organ der Ehrfurcht«. Schopen^
hauer spricht von dem Mangel an verecundia bei den Juden.
Fischer macht darauf aufmerksam, daß soziale Ungleichheit (Juden)
oder körperliche Verunstaltungen (Bucklige) dem Witze günstige
Dispositionen bieten. Diese sozialen Ungleichheiten werden aber
gerade in der Kindheit am schwersten empfunden, da die Alters-
genossen immer wieder auf sie unbarmherzig hinweisen. Diese soziale
Ungleichheit besteht aber auch im Verhältnis der Kinder zu den
Erwachsenen. Auch hier entwickelt sich der Witz auf dieser Basis.
Auch hier dient er zur Entschleierung der Erwachsenen, zur AuF
deckung ihrer Pose. Und wenn der große Skeptiker Henrik Ibsen
das Wort: »Ist es denn wirklich groß, das Große?« schrieb, so
könnte man dieses Wort als Motto über ein Kapitel der kindlichen
Entwicklung schreiben, das sich in beständigen Variationen über das
Thema abspielt. Und das Kind könnte zynisch über sein Verhältnis
zu den »Großen« mit Nietzsche sprechen: »Wahrlich, den Größten
noch fand ich — allzumenschlich.«
Man bemerkt, daß Menschen, die zum zynischen Witz beson*
ders neigen, eine gewisse geistige Physiognomie gemeinsam ist. Hier
warten noch ungelöste Probleme, auf die ich vorläufig bloß hinzu^
weisen wage. Wenn man die psychischen Eigenheiten der Leute,
denen die Gabe des Witzes wurde, vergleicht, so wird vor allem ihre
hohe Disposition zur Neurose auffallen. Es ist kaum anzunehmen,
daß primitive, ihren Trieben völlig hingegebene Menschen, in primitiver
Umgebung erwachsen, besonders witzig sind. Der zynische Witz
z. B. entspringt ja, wie wir gesehen haben, aus einem inneren
Zwiespalt, Er ist »pathogen«, Man kann daher auch ganz gut von
seinem psychotherapeutischen Werte sprechen, da er mit Traum und
Dichtung zu den gelungenen Abzugsquellen jener Regungen gehört,
welche in ihrer Stauung zur Neurose und zu Wahnbildungen führen.
Der zynische Witz bringt eine — wenn auch kurze — Befreiung
aus dem Kampfe zwischen Kulturgebot und Triebleben. Und so hat
das Volk recht, wenn es sagt, Lachen erhalte gesund.
Man sieht, daß der Zynismus wie jede andere psychische

1 Über den Witz. Kleine Sdiriften. Stuttgart 1889. 2. AufI,
 
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