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Sigm. Freud
entlasten. Die Szene auf der Bühne ist durch zweckmäßige Ent-
stellung, man könnte sagen: im Dienste raffinierter Heuchelei, aus
der historischen Szene hervorgegangen. In jener alten Wirklichkeit
waren es gerade die Chorgenossen, die das Leiden des Helden ver«
ursachten,- hier aber erschöpfen sie sich in Teilnahme und Bedauern,
und der Held ist selbst an seinem Leiden schuld. Das auf ihn ge«
wälzte Verbrechen, die Oberhebung und Auflehnung gegen eine
große Autorität, ist genau dasselbe, was in Wirklichkeit die Genossen
des Chors, die Brüderschar, bedrückt. So wird der tragische Held
— noch wider seinen Willen — zum Erlöser des Chors gemacht.
Waren speziell in der griechischen Tragödie die Leiden des
göttlichen Bockes Dionysos und die Klage des mit ihm sich identi«
fizierenden Gefolges von Böcken der Inhalt der Aufführung, so wird
es leicht verständlich, daß das bereits erloschene Drama sich im
Mittelalter an der Passion Christi neu entzündete.
So möchte ich denn zum Schluß dieser mit äußerster Ver«
kürzung geführten Untersuchung das Ergebnis aussprechen, daß im
Ödipuskomplex die Anfänge von Religion, Sittlichkeit, Gesellschaft
und Kunst Zusammentreffen, in voller Übereinstimmung mit der
Feststellung der Psychoanalyse, daß dieser Komplex den Kern aller
Neurosen bildet, so weit sie bis jetzt unserem Verständnis nach«
gegeben haben. Es erscheint mir als eine große Überraschung, daß
auch diese Probleme des Völkerseelenlebens eine Auflösung von
einem einzigen konkreten Punkte her, wie es das Verhältnis zum
Vater ist, gestatten sollten. Vielleicht ist selbst ein anderes psycho-
logisches Problem in diesen Zusammenhang einzubeziehen. Wir haben
so oft Gelegenheit gehabt, die Gefühlsambivalenz im eigentlichen
Sinne, also das Zusammentreffen von Liebe und Haß gegen das«
selbe Objekt, an der Wurzel wichtiger Kulturbildungen aufzuzeigen.
Wir wissen nichts über die Herkunft dieser Ambivalenz. Man kann
die Annahme machen, daß sie ein fundamentales Phänomen unseres
Gefühlslebens sei. Aber auch die andere Möglichkeit scheint mir
wohl beachtenswert, daß sie, dem Gefühlsleben ursprünglich fremd,
von der Menschheit an dem Vaterkomplex1 erworben wurde, wo
die psychoanalytische Erforschung des Einzelmenschen heute n och
ihre stärkste Ausprägung nach weist.2
1 Respektive Elternkomplex.
2 Der Mißverständnisse gewöhnt, halte ich es nicht für überflüssig, aus«
drüddich hervorzuheben, daß die hier gegebenen Zurückführungen an die komplexe
Natur der abzuleitenden Phänomene keineswegs vergessen haben, und daß sie nur
den Anspruch erheben, zu den bereits bekannten oder noch unerkannten Ursprüngen
der Religion, Sittlichkeit und der Gesellschaft ein neues Moment hinzufügen, welches
sich aus der Berücksichtigung der psychoanalytischen Anforderungen ergibt. Die
Synthese zu einem Ganzen der Erklärung muß ich anderen überlassen. Es geht
aber diesmal aus der Natur dieses neuen Beitrages hervor, daß er in einer solchen
Synthese keine andere als die zentrale Rolle spielen könnte, wenngleich die Über«
Windung von großen affektiven Widerständen erfordert werden dürfte, ehe man
ihm eine solche Bedeutung zugesteht.
Sigm. Freud
entlasten. Die Szene auf der Bühne ist durch zweckmäßige Ent-
stellung, man könnte sagen: im Dienste raffinierter Heuchelei, aus
der historischen Szene hervorgegangen. In jener alten Wirklichkeit
waren es gerade die Chorgenossen, die das Leiden des Helden ver«
ursachten,- hier aber erschöpfen sie sich in Teilnahme und Bedauern,
und der Held ist selbst an seinem Leiden schuld. Das auf ihn ge«
wälzte Verbrechen, die Oberhebung und Auflehnung gegen eine
große Autorität, ist genau dasselbe, was in Wirklichkeit die Genossen
des Chors, die Brüderschar, bedrückt. So wird der tragische Held
— noch wider seinen Willen — zum Erlöser des Chors gemacht.
Waren speziell in der griechischen Tragödie die Leiden des
göttlichen Bockes Dionysos und die Klage des mit ihm sich identi«
fizierenden Gefolges von Böcken der Inhalt der Aufführung, so wird
es leicht verständlich, daß das bereits erloschene Drama sich im
Mittelalter an der Passion Christi neu entzündete.
So möchte ich denn zum Schluß dieser mit äußerster Ver«
kürzung geführten Untersuchung das Ergebnis aussprechen, daß im
Ödipuskomplex die Anfänge von Religion, Sittlichkeit, Gesellschaft
und Kunst Zusammentreffen, in voller Übereinstimmung mit der
Feststellung der Psychoanalyse, daß dieser Komplex den Kern aller
Neurosen bildet, so weit sie bis jetzt unserem Verständnis nach«
gegeben haben. Es erscheint mir als eine große Überraschung, daß
auch diese Probleme des Völkerseelenlebens eine Auflösung von
einem einzigen konkreten Punkte her, wie es das Verhältnis zum
Vater ist, gestatten sollten. Vielleicht ist selbst ein anderes psycho-
logisches Problem in diesen Zusammenhang einzubeziehen. Wir haben
so oft Gelegenheit gehabt, die Gefühlsambivalenz im eigentlichen
Sinne, also das Zusammentreffen von Liebe und Haß gegen das«
selbe Objekt, an der Wurzel wichtiger Kulturbildungen aufzuzeigen.
Wir wissen nichts über die Herkunft dieser Ambivalenz. Man kann
die Annahme machen, daß sie ein fundamentales Phänomen unseres
Gefühlslebens sei. Aber auch die andere Möglichkeit scheint mir
wohl beachtenswert, daß sie, dem Gefühlsleben ursprünglich fremd,
von der Menschheit an dem Vaterkomplex1 erworben wurde, wo
die psychoanalytische Erforschung des Einzelmenschen heute n och
ihre stärkste Ausprägung nach weist.2
1 Respektive Elternkomplex.
2 Der Mißverständnisse gewöhnt, halte ich es nicht für überflüssig, aus«
drüddich hervorzuheben, daß die hier gegebenen Zurückführungen an die komplexe
Natur der abzuleitenden Phänomene keineswegs vergessen haben, und daß sie nur
den Anspruch erheben, zu den bereits bekannten oder noch unerkannten Ursprüngen
der Religion, Sittlichkeit und der Gesellschaft ein neues Moment hinzufügen, welches
sich aus der Berücksichtigung der psychoanalytischen Anforderungen ergibt. Die
Synthese zu einem Ganzen der Erklärung muß ich anderen überlassen. Es geht
aber diesmal aus der Natur dieses neuen Beitrages hervor, daß er in einer solchen
Synthese keine andere als die zentrale Rolle spielen könnte, wenngleich die Über«
Windung von großen affektiven Widerständen erfordert werden dürfte, ehe man
ihm eine solche Bedeutung zugesteht.