Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 10.1924

DOI Heft:
Heft 2 u. 3
DOI Artikel:
Jones, Ernest: Psychoanalyse und Anthropologie
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.36527#0146
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
i54

Dr. Ernest Jones

Die früheren Autoritäten auf dem Gebiete der Anthropologie, so z. B. die
Begründer dieses Instituts, arbeiteten unter zwei so außerordentlichen Er-
schwerungen, daß wir für den Weg, den sie trotzdem zurückzulegen im-
stande waren, die größte Bewunderung haben müssen. Weder hatten sie
selber die psychischen Phänomene beobachtet, die sie studierten, noch
waren sie zur psychologischen Interpretation solcher Phänomene ausgebildet.
Die Anthropologen haben diese Sachlage freimütig anerkannt und die Mit-
glieder der jüngeren Generation haben praktische Schritte getan, um wenigstens
den ersten dieser beiden Mängel zu beheben. Der Erfolg davon ist, daß
der Forschungsreisende von heute einen unzweifelhaften Vorteil vor jenen
hat, welche er gelegentlich überheblich als „zzrmcA<zzr-zzny/zroyoZog*A^" zu
bezeichnen pflegt. Er hat auch nichts vor dem Psychologen voraus, der
ebenso wie er auf der einen Seite im Vorteil, auf der anderen im Nach-
teil ist. Unter diesen Umständen kann es nur von Nutzen sein, wenn beide
sich mit gegenseitigem Wohlwollen einander nähern und so lange mit-
einander arbeiten, bis beide von einer neuen Generation von Anthropologen
abgelöst werden, die gleichzeitig mit der Arbeit des Sammlers und mit
den Methoden der modernen Psychologie vertraut sind. Ein Vertreter dieser
neuen Generation ist aber bisher noch nicht unter uns aufgetaucht.
Zweitens ist die Ähnlichkeit der von den Anthropologen und den Psycho-
analytikern erforschten Tatsachen oft so auffällig und unerwartet, daß sie
direkt eine Erklärung herausfordert, so daß es zur Pflicht wird, zumindest
die Aufmerksamkeit der Anthropologen auf diesen Umstand zu lenken. Bei
unserer mühsamen Durchforschung der verborgenen Winkel des Seelen-
lebens stoßen wir manchmal auf Vorstellungsgruppen, zugrundeliegende
Anschauungen und Denkformen, die von allem, was wir vom bewußten
Seelenleben wissen, völlig abweichen, und für die wir in unserer Erfahrung
kein Seitenstück finden. Die Funde sind anderseits so unzweideutig, daß
wir sie empirisch akzeptieren müssen, wenn wir auch nicht imstande sind,
sie mit irgend einem früheren Wissen in Zusammenhang zu bringen.
Gewisse Merkmale drängen uns ferner die Vermutung auf, daß sie eine
archaischere Schichte des Seelenlebens darstellen als die uns gewohnte, eine
Schichte, die im Laufe der Entwicklung verlassen und von neueren über-
deckt wurde. Wir erfahren dann mit dem größten Erstaunen, daß iden-
tische Anschauungen und Denkformen in der Folklore und Mythologie
vergangener Tage oder bei den wilden Völkern unserer Zeit verzeichnet
sind. Was sollen wir davon denken? Wir werden zunächst in der Über-
zeugung bestärkt, daß unsere Funde nicht ein Kunstprodukt unserer Beob-
 
Annotationen