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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 10.1924

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Heft 4
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Hermann, Imre: Die Regression zum zeichnerischen Ausdruck bei Goethe
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https://doi.org/10.11588/diglit.36527#0436
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Die Regression zum zeichnerischen
Ausdruck bei Goethe
Von Dr. Imre Hermann (Budapest)
Am Anfänge des zweiten Teiles von „Dichtung und Wahrheit" be-
schreibt Goethe, wann und wie er in sich den Drang (zum ersten Male?)
fühlte, zeichnen zu müssen. Es war die Zeit nach einer Liebesentsagung,
nach der lustig begonnenen, qualvoll beendigten Bekanntschaft mit
Gretchen. Er war sich selbst und der Einsamkeit überlassen und da fing
er an, auf die ungeschickteste Weise -— obzwar er von Kindheit an unter
Malern gelebt hatte und künstlerische Betrachtung der Gegenstände ge-
wohnt war — nach der Natur zu zeichnen. Er hing hartnäckig an dieser
einzigen Art, sich zu äußern — obzwar schon längst mit dichterischen
Schöpfungen beschäftigt —— und setzte seine ganze Kraft in diese Betäti-
gung. Es stieg langsam eine neue Begabung empor.
Bald nachdem wir diese Richtungsänderung seiner künstlerischen Ein-
stellung zu hören bekommen, erfahren wir (zwei Seiten weiter), daß er
von solchen „halb künstlerischen Streifpartien wieder nach Hause gezogen
ward, und zwar durch einen Magnet, der von jeher stark auf ihn wirkte:
es war seine Schwester". Sie, die Schwester war zwar äußerlich entschieden
häßlicher als Gretchen, aber er tröstete sich doch, nachdem sein Verhältnis
mit Gretchen gelöst war, mit seiner Schwester, „um desto ernstlicher, als sie
heimlich die Zufriedenheit empfand, eine Nebenbuhlerin los geworden zu
sein". Goethes Liebe für Gretchen hatte sich also in die Geschwisterliebe
gerettet. Also auch eine Richtungsänderung', aber statt einem neuen
Objekte geltend, galt es hier dem alten Objekt der Schwester d Die
Richtungsänderung bedeutet hier eine regressive Besetzung.

1) Goethes Geschwisterliebe siehe ausführlich hei Rank: „Das Inzestmotiv in
Dichtung und Sage." 1912, S. goi bis 518.
 
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