Die Regression zum zeichnerischen Ausdruck bei Goethe zj.2g
Wo wir regressive Besetzungen von einer Art vorfinden, sind wir ge-
wohnt, auch regressive Besetzungen anderer Art anzutreffen, und da wird
die Frage laut, oh denn die neu emporsteigende Begabung nicht ebenfalls
auf einer regressiven Besetzung ruhe, hervorgezwungen durch die Liebes-
enttäuschung. Es wäre also -—- nach unserer Annahme — notwendig nach-
zuweisen, daß eine Regression zur Wiederbelebung der Handerotik und
der kindlichen Gedanken über die eigene Schönheit führte. Diese Ab-
leitung setzt wiederum ihrerseits voraus, daß bei Goethe in der Kindheit
diese zwei vermuteten Komponenten der zeichnerischen Begabung wirksam
waren/
Es ist nun interessant, zu erfahren, daß Gretchen „von ungemeiner,
und wenn man sie in ihrer Umgebung sah, von unglaublicher Schönheit"
gewesen war (fünftes Buch), daß sie sich nicht küssen ließ, auch gab sie
niemandem die Hand, auch ihm nicht; „sie litt keine Berührung"/ Doch
am Anfänge der Bekanntschaft drückte sie liebevoll mit beiden Händen
seine Rechte, er hinwieder drückte sein Gesicht auf ihre Hände; auch
von späterher erinnert er sich an eine Szene, als sie ihm beim Abschied gar
herzlich die Hände drückte und nur beim allerletzten Abschied küßte sie
ihn. Es war also ein Verhältnis, welches die Hand- und Munderotik recht
wohl reizen konnte, ohne direkte Befriedigungsmöglichkeiten zu bieten. Ab-
geleitet wurden diese Erregungen durch sprachliche Sublimierungen. Als
Gretchen für Goethe verloren ging, mußte also die schon früher eingesetzte
Sublimierung auf die Handerotik transponiert werden, wenn nämlich
der Weg der Regression tatsächlich von der Mund- zur Handerotik führte
(NB. auf Grund einer gewissen Etappe der Entwicklung; eine noch tiefere
Regression hätte wieder auf die Munderotik — vielleicht schon ohne
Sublimierungsmöglichkeit — zurückführen können).
Wir müssen nicht weit nach Belegen für die infantile, starke Libido-
betontheit der Hände Goethes nachforschen! Das einzige mitgeteilte, selbst-
phantasierte „Knabenmärchen" „Der neue Paris" (zweites Buch) dreht sich
sozusagen um die Handerotik und — um die Knabenschönheit. Es ist
gleichzeitig ein Produkt des Ödipus-Komplexes. (Er träumt, er stehe vor
1) Es sei hier eine kleine Bemerkung Gottfried Kellers erwähnt: „Den, der seinen
Körper mit Absicht in einen schmutzigen Kittel steckt, verlache ich, und den, der
sein Äußeres ekelhaft vernachläßigt, bemitleide ich; denn, wenn der das Gefühl
der Schönheit für sich selbst nicht hat, so hat er's auch nicht für die Natur . . ."
(Brief an Johann Müller, i8gy.)
2) Ähnlich „scheu" war übrigens auch Goethes Schwester.
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Wo wir regressive Besetzungen von einer Art vorfinden, sind wir ge-
wohnt, auch regressive Besetzungen anderer Art anzutreffen, und da wird
die Frage laut, oh denn die neu emporsteigende Begabung nicht ebenfalls
auf einer regressiven Besetzung ruhe, hervorgezwungen durch die Liebes-
enttäuschung. Es wäre also -—- nach unserer Annahme — notwendig nach-
zuweisen, daß eine Regression zur Wiederbelebung der Handerotik und
der kindlichen Gedanken über die eigene Schönheit führte. Diese Ab-
leitung setzt wiederum ihrerseits voraus, daß bei Goethe in der Kindheit
diese zwei vermuteten Komponenten der zeichnerischen Begabung wirksam
waren/
Es ist nun interessant, zu erfahren, daß Gretchen „von ungemeiner,
und wenn man sie in ihrer Umgebung sah, von unglaublicher Schönheit"
gewesen war (fünftes Buch), daß sie sich nicht küssen ließ, auch gab sie
niemandem die Hand, auch ihm nicht; „sie litt keine Berührung"/ Doch
am Anfänge der Bekanntschaft drückte sie liebevoll mit beiden Händen
seine Rechte, er hinwieder drückte sein Gesicht auf ihre Hände; auch
von späterher erinnert er sich an eine Szene, als sie ihm beim Abschied gar
herzlich die Hände drückte und nur beim allerletzten Abschied küßte sie
ihn. Es war also ein Verhältnis, welches die Hand- und Munderotik recht
wohl reizen konnte, ohne direkte Befriedigungsmöglichkeiten zu bieten. Ab-
geleitet wurden diese Erregungen durch sprachliche Sublimierungen. Als
Gretchen für Goethe verloren ging, mußte also die schon früher eingesetzte
Sublimierung auf die Handerotik transponiert werden, wenn nämlich
der Weg der Regression tatsächlich von der Mund- zur Handerotik führte
(NB. auf Grund einer gewissen Etappe der Entwicklung; eine noch tiefere
Regression hätte wieder auf die Munderotik — vielleicht schon ohne
Sublimierungsmöglichkeit — zurückführen können).
Wir müssen nicht weit nach Belegen für die infantile, starke Libido-
betontheit der Hände Goethes nachforschen! Das einzige mitgeteilte, selbst-
phantasierte „Knabenmärchen" „Der neue Paris" (zweites Buch) dreht sich
sozusagen um die Handerotik und — um die Knabenschönheit. Es ist
gleichzeitig ein Produkt des Ödipus-Komplexes. (Er träumt, er stehe vor
1) Es sei hier eine kleine Bemerkung Gottfried Kellers erwähnt: „Den, der seinen
Körper mit Absicht in einen schmutzigen Kittel steckt, verlache ich, und den, der
sein Äußeres ekelhaft vernachläßigt, bemitleide ich; denn, wenn der das Gefühl
der Schönheit für sich selbst nicht hat, so hat er's auch nicht für die Natur . . ."
(Brief an Johann Müller, i8gy.)
2) Ähnlich „scheu" war übrigens auch Goethes Schwester.
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