Benvenuto Cellinis dichterische Periode
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des neununddreißigsten Lebensjahres finden wir mehrere Dichtungen auf-
gezeichnet (IV. Buch der Autobiographie) d Ist nun, so muß gefragt werden,
die Seele Cellinis während dieser Zeit Veränderungen unterworfen worden,
welche das Auftreten der von uns verlangten Bedingungen (stärkere Oral-
erotik, Totenkomplex, Seherkomplex)^ ihrerseits bedingt haben können?
Cellini war in dieser Zeit im Kerker; anfangs konnte er sich noch
in der Modellierkunst betätigen und bewegte sich auch ziemlich frei in
der Festung San Agnolo. Später aber, nach einem mißlungenen Flucht-
versuch war er monatelang mit gebrochenem Beine an ein finsteres Loch
gebunden, wo er kaum etwas Licht hereinbekam (CXIX). Cellini berichtet
nun selbst über Erlebnisse, die ihn hier überfielen, noch bevor er zu
dichten anfing. Kurz gesagt: er hatte hier, im Kerker, klare Visionen,
er hörte Prophezeiungen und glaubte an die eigene prophetische Macht,
er fühlte sich in einer Art Traumzustand, den er nach und nach ange-
nehm fand.
Diese Erlebnisse könnten vielleicht unter dem Namen „Haftpsychose"
leicht erledigt werden, doch dürfen wir hei diesem Namen nicht stehen
bleiben. Erstens sind die psychotischen Erlebnisse selbst in ihrer psychischen
sinnvollen Determination zu betrachten, sie sind der wunscherfüllenden
Tendenz der Seele unterzuordnen, und zweitens sagt weder eine psychia-
trische Diagnose, noch selbst eine solche analytische Betrachtung etwas
darüber, weshalb eine besondere Begabung auftrat, oder, wenn wir hier
vorsichtig mit den Werturteilen sein wollen, weshalb die schon vorhandene
künstlerische Ausdrucksart den Platz einer anderen Art des künstlerischen
Ausdrucks überläßt.
Man könnte vielleicht meinen, die dichterische Betätigung wäre schon
durch die Mächtigkeit des Erlebnisses erklärbar, das mächtige Erlebnis
könnte nur durch dichterische Leistungen abreagiert werden. Eine Be-
rechtigung kann dieser Anschauung nicht zugesprochen werden. Cellini
1) Es wurde die nach den Camerinischen und Bianchinischen Ausgaben gefertigte
ungarische Übersetzung von Szana benützt. Von deutschen Übersetzungen stand mir
nur die kunstvolle Goethe sehe (nach einer alten, fehlerhaften italienischen Ausgabe
bereitete) Übersetzung zur Verfügung.
2) Erklärung der Zusammenhänge: Oralerotik: Sublimierung in der
Sprache, im Reim (Weiß, Von Reim und Refrain, Imago II, 1915); Toten-
komplex (— Geliebtwerden als [Schein-]Toter[Tote] oder Lieben eines [einer]
Lebendigtoten): Lebens-, Todesambivalenz der Laute: sie werden lebendig, um so-
verklingen; Seherkomplex (= die Überzeugung von der eigenen prophetischen
Gabe): Das Vorauswissen des Kommenden (formal), im Reim, Rhythmus.
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des neununddreißigsten Lebensjahres finden wir mehrere Dichtungen auf-
gezeichnet (IV. Buch der Autobiographie) d Ist nun, so muß gefragt werden,
die Seele Cellinis während dieser Zeit Veränderungen unterworfen worden,
welche das Auftreten der von uns verlangten Bedingungen (stärkere Oral-
erotik, Totenkomplex, Seherkomplex)^ ihrerseits bedingt haben können?
Cellini war in dieser Zeit im Kerker; anfangs konnte er sich noch
in der Modellierkunst betätigen und bewegte sich auch ziemlich frei in
der Festung San Agnolo. Später aber, nach einem mißlungenen Flucht-
versuch war er monatelang mit gebrochenem Beine an ein finsteres Loch
gebunden, wo er kaum etwas Licht hereinbekam (CXIX). Cellini berichtet
nun selbst über Erlebnisse, die ihn hier überfielen, noch bevor er zu
dichten anfing. Kurz gesagt: er hatte hier, im Kerker, klare Visionen,
er hörte Prophezeiungen und glaubte an die eigene prophetische Macht,
er fühlte sich in einer Art Traumzustand, den er nach und nach ange-
nehm fand.
Diese Erlebnisse könnten vielleicht unter dem Namen „Haftpsychose"
leicht erledigt werden, doch dürfen wir hei diesem Namen nicht stehen
bleiben. Erstens sind die psychotischen Erlebnisse selbst in ihrer psychischen
sinnvollen Determination zu betrachten, sie sind der wunscherfüllenden
Tendenz der Seele unterzuordnen, und zweitens sagt weder eine psychia-
trische Diagnose, noch selbst eine solche analytische Betrachtung etwas
darüber, weshalb eine besondere Begabung auftrat, oder, wenn wir hier
vorsichtig mit den Werturteilen sein wollen, weshalb die schon vorhandene
künstlerische Ausdrucksart den Platz einer anderen Art des künstlerischen
Ausdrucks überläßt.
Man könnte vielleicht meinen, die dichterische Betätigung wäre schon
durch die Mächtigkeit des Erlebnisses erklärbar, das mächtige Erlebnis
könnte nur durch dichterische Leistungen abreagiert werden. Eine Be-
rechtigung kann dieser Anschauung nicht zugesprochen werden. Cellini
1) Es wurde die nach den Camerinischen und Bianchinischen Ausgaben gefertigte
ungarische Übersetzung von Szana benützt. Von deutschen Übersetzungen stand mir
nur die kunstvolle Goethe sehe (nach einer alten, fehlerhaften italienischen Ausgabe
bereitete) Übersetzung zur Verfügung.
2) Erklärung der Zusammenhänge: Oralerotik: Sublimierung in der
Sprache, im Reim (Weiß, Von Reim und Refrain, Imago II, 1915); Toten-
komplex (— Geliebtwerden als [Schein-]Toter[Tote] oder Lieben eines [einer]
Lebendigtoten): Lebens-, Todesambivalenz der Laute: sie werden lebendig, um so-
verklingen; Seherkomplex (= die Überzeugung von der eigenen prophetischen
Gabe): Das Vorauswissen des Kommenden (formal), im Reim, Rhythmus.