Dr. Imre Hermann
422
Wir fassen das Gesagte zusammen: Es ist aller Grund anzunehmen, daß
Cellini während seiner dichterischen Periode in einer Seelenverfassung
war, welche durch erhöhte Orallibido (geringer gewordene Handlibido),
durch den Totenkomplex (Geliebtwerden als Lebendigtoter) und durch den
Seherkomplex (die Übezeugung an der prophetischen Begabung) bezeichnet
werden kann. Diese Faktoren dürften jetzt nicht der Verdrängung
unterworfen werden, da sie durch Wunschtendenzen des Ichs genährt
waren, hingegen gelangten sie in der Sublimierung zur wenn auch
gemildert befriedigenden einheitlichen Auswirkung. In seinem Gedichte
„Capitolo" blicken uns diese Faktoren direkt entgegen. Hier einige be-
zeichnende Strophen:
Nie hörst du ein Wort! Mit deiner Nahrung bringt der Soldat, ein ge-
wesener schmutziger Apotheker und Bauer, nur traurige Nachrichten.
. . . Ich erzähle dir ein großes Wunder. Eines Tages dem durch die Un-
glückslage angeregten Wunsche gehorchend, kam mir der Gedanke, eine Feder
in die Hand zu nehmen.
. . . Da Bog in mein' Körper das Feuer der Dichtkunst! Wahrlich, ich
glaube, sie kam herein, wo das Brot, da ihr keine andere Tür offen stand.
. . . Ich sang und beschrieb mein Unglück, mir von Gott Gnade und Hilfe
bittend, denn ich spürte, daß der Tod mir die Augen schloß.
. . . Doch die Trompete der Wahrheit deckte mir die Zukunft auf, und
ich sagte ihnen alles, ohne zu verschweigen, weil mein Leid heftig sich
rührte.
. . . Aus dem schrecklichen Schmerze halbwegs erwachend, widmete ich
Gott meine Seele und war glücklich, in eine bessere Welt gehen zu können.
Da sah ich einen Engel vom Himmel heruntersteigen, einen Palmzweig
in der Hand. Mit strahlendem Antlitz versprach er mir glücklichere Tage.
In Gottes Namen, sagte er, auf deine Feinde wartet ein grausames Schick-
sal; sie werden sich nach heftigem Kampfe zerstreuen, aber du lebst in
Freuden und in Freiheit; gelobt sei der, der Vater ist im Himmel und auf
Erden.
*
Man könnte sich vielleicht dafür interessieren, ob bei Cellini die für die
zeichnerische (richtiger zeichnerisch-modellierende) Begabung in Beschlag
genommenen Faktoren nachzuweisen wären. Nun die Libidobetontheit der
Hand — ein teilweise vererbtes Gut — ist nicht direkt, nicht zweifellos
nachweisbar; der Künstler hätte hier viel Intimes über seine Art zu lieben
erzählen müssen, und das tat sogar der in seiner Selbstbiographie nicht
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Wir fassen das Gesagte zusammen: Es ist aller Grund anzunehmen, daß
Cellini während seiner dichterischen Periode in einer Seelenverfassung
war, welche durch erhöhte Orallibido (geringer gewordene Handlibido),
durch den Totenkomplex (Geliebtwerden als Lebendigtoter) und durch den
Seherkomplex (die Übezeugung an der prophetischen Begabung) bezeichnet
werden kann. Diese Faktoren dürften jetzt nicht der Verdrängung
unterworfen werden, da sie durch Wunschtendenzen des Ichs genährt
waren, hingegen gelangten sie in der Sublimierung zur wenn auch
gemildert befriedigenden einheitlichen Auswirkung. In seinem Gedichte
„Capitolo" blicken uns diese Faktoren direkt entgegen. Hier einige be-
zeichnende Strophen:
Nie hörst du ein Wort! Mit deiner Nahrung bringt der Soldat, ein ge-
wesener schmutziger Apotheker und Bauer, nur traurige Nachrichten.
. . . Ich erzähle dir ein großes Wunder. Eines Tages dem durch die Un-
glückslage angeregten Wunsche gehorchend, kam mir der Gedanke, eine Feder
in die Hand zu nehmen.
. . . Da Bog in mein' Körper das Feuer der Dichtkunst! Wahrlich, ich
glaube, sie kam herein, wo das Brot, da ihr keine andere Tür offen stand.
. . . Ich sang und beschrieb mein Unglück, mir von Gott Gnade und Hilfe
bittend, denn ich spürte, daß der Tod mir die Augen schloß.
. . . Doch die Trompete der Wahrheit deckte mir die Zukunft auf, und
ich sagte ihnen alles, ohne zu verschweigen, weil mein Leid heftig sich
rührte.
. . . Aus dem schrecklichen Schmerze halbwegs erwachend, widmete ich
Gott meine Seele und war glücklich, in eine bessere Welt gehen zu können.
Da sah ich einen Engel vom Himmel heruntersteigen, einen Palmzweig
in der Hand. Mit strahlendem Antlitz versprach er mir glücklichere Tage.
In Gottes Namen, sagte er, auf deine Feinde wartet ein grausames Schick-
sal; sie werden sich nach heftigem Kampfe zerstreuen, aber du lebst in
Freuden und in Freiheit; gelobt sei der, der Vater ist im Himmel und auf
Erden.
*
Man könnte sich vielleicht dafür interessieren, ob bei Cellini die für die
zeichnerische (richtiger zeichnerisch-modellierende) Begabung in Beschlag
genommenen Faktoren nachzuweisen wären. Nun die Libidobetontheit der
Hand — ein teilweise vererbtes Gut — ist nicht direkt, nicht zweifellos
nachweisbar; der Künstler hätte hier viel Intimes über seine Art zu lieben
erzählen müssen, und das tat sogar der in seiner Selbstbiographie nicht