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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 10.1924

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Heft 4
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Hermann, Alice: Die Grundlagen der zeichnerischen Begabung bei Marie Bashkirtseff: (nach dem "Journal de Marie Bashkirtseff")
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https://doi.org/10.11588/diglit.36527#0450
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4g8 Hermann-Cziner: Die Grundlagen der zeichnerischen Begabung usw.

sie jedoch später mehrmals Ausdruck und auch Äußerungen wie die folgende,
wiederholen sich: „Diesen Abend nach dem Bade wurde ich plötzlich so
hübsch, daß ich zwanzig Minuten damit verbrachte, mich anzuschauen."
(II, gg.) Ängstlich beobachtet sie die Wirkung ihrer fortschreitenden
Schwindsucht auf ihr Äußeres und meist sind es die Arme, von denen sie
befriedigt feststellt, daß sie von ihrer Fülle noch nichts eingebüßt haben.
Nur noch zwei Äußerungen, die das „woher" und „wohin" der Libido-
betontheit von Marie Bashkirtseffs Händen illustrieren mögen. Die erste
lautet (aus dem achtzehnten Lebensjahre) : „Ich hätte wunderbare Hände
haben können, wenn die Finger nicht unwürdigerweise von den Saiten-
instrumenten zugrunde gerichtet wären und wenn ich meine Nägel nicht
kaute/ Aber die Instrumente würden noch nichts machen, wenn ich anständige
Nägel hätte." (II, gg.) Und die zweite (aus demselben Jahre): „Breslau (eine
Künstlerkollegin) sagt, daß die Art, wie ich die Gegenstände berühre, von
erlesener Schönheit ist, obzwar ich keine Hände von klassischer Schönheit
habe. — Aber man muß Künstler sein, um diese Schönheit herauszufinden;
der Bürger und der Mann der Welt beachten nicht die Art, wie man die
Gegenstände ergreift . . ." (II, gg.)
Also nicht nur die statisch-ruhende, sondern auch die greifende,
die sich betätigende Hand wird geliebt; von hier aus ist der Schritt
zurück zu den wirklichen Libidobetätigungen schon viel näher. Wie die
Entwicklung des künstlerischen Schönheitsideals, so steht also auch der Weg
zur künstlerischen Betätigung vor unseren Augen.

1) Die andere libidinöse Grundlage des Nägelkauens, die Oralerotik, mag in
der Sublimierung zur Erklärung der schriftstellerischen Begabung von Marie Bash-
kirtseff (wohl auch ihres Konversationstalentes) dienen; auch die von ihr hervor-
gehobene Tatsache, daß sie sich bis dreieinhalb Jahren an der Brust nährte, soll
hier erwähnt werden. — Daß sie von Kindheit an ein Tagebuch mit der aus-
gesprochenen Absicht führte, es nach ihrem Tode der Öffentlichkeit zu überlassen
und sich somit die Bewunderung der Nachwelt zu verschaffen, deutet auch auf einen
ziemlich starken (narzißtischen) Totenkomplex. (Geliebt werden als Tote!)
 
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