Kritiken und Referate
195
Dr. RUDOLF EISLER: Psychologie im Umriß. Vierte, verbesserte Auflage.
Verlag von Oskar Ziegler, Marktredwitz.
Ein leichtverständlich gehaltener kurzer
Umriß, hauptsächlich den Wundtschen
Gedanken huldigend. Die Psychoanalyse
findet mehrfach Erwähnung, meistens mit
Anerkennung (Determiniertheit „freistei-
gender" Vorstellungen im Unterbewußten;
Sublimierung; Katharsis; erotische Fakto-
ren im individuellen, sozialen, kulturellen
Verhalten, in der Charakterbildung; sym-
bolische Ersatzreaktionen; Verdrängung;
die Rolle der aus der Kindheit stammenden
Komplexe —- „Vaterkomplex"; Bewußt-
machung als Therapie; Wunscherfüllung
im Traume — wenn auch nicht durchwegs).
Der Umstand, daß die Psychoanalyse sich
RICHARD MÜLLER-FREIENFELS:
Verlag F. Meiner. Leipzig 1921.
Unter den Methoden der Psychologie
und der Psychotherapie hat zu allererst
die Psychoanalyse die gründlichste Er-
kenntnis der persönlichen Erlebnisse
als Ziel hingestellt. Die Psychoanalyse
war nicht durch Aufdeckung von Krank-
heitssymptomen und psychischen Normal-
oder pathologischen Typen befriedigt,
sondern sie versuchte die Gesamtindividu-
während der Krankenbehandlung diesem
Ziele irgendwie näherte, konnte bemerken,
daß er mit der größten Anstrengung nach
Begriffen und Worten ringen mußte, durch
die die mehr weniger vollständig erfaßte
Individualität zu beschreiben wäre.
Der Psychoanalytiker wird es also als
natürlich empfinden, daß die „Individu-
alität" für das Denken ganz besondere
Probleme aufwirft. Müller-Freienfels
ist im vorliegenden Werke dem Problem
der Individualität von philosophischer Seite
näher getreten. Er sieht in der Individu-
alität (neben Substanz, Kraft und Form)
hier gerade im Rahmen der Wundtschen
Psychologie einer breiteren Verarbeitung
erfreut, muß meiner Meinung nach zwei
Lehren Wundts zugeschrieben werden,
das ist erstens die durchgehends volun-
taristische Auffassung und zweitens die
Apperzeptionslehre. Die erste Auf-
fassung kann als eine sublimierte Trieb-
lehre, die zweite als ein nicht klar aus-
gearbeitetes Durcheinander vom „Ich-
System" mit Zensur und von Systemen
Baj — Fine betrachtet werden. Einige ana-
tomisch-physiologische Angaben müßten
verbessert werden (z. B. Purkinjesches
Phänomen). Dr. I. Hermann.
Philosophie der Individualität.
eine Denkkategorie, hinter welcher
als reale Grundlage — als „Drittes" neben
Materie und Seelischem — das Leben
waltet. Wie das Leben, so sei auch die
Individualität irrational, d. h. sie kenne
die Sätze der rationalen Logik nicht: die
Sätze der Identität (A — A), des Wider-
spruchs (A kann nicht gleichzeitig B und
Nicht-B sein), des zureichenden Grundes
(Kausalität) verlieren hier ihre Gültigkeit.
Die irrationale Individualität soll sieben
verschiedene Erscheinungsweisen zeigen
können, und zwar 1. das unmittelbar er-
lebte Individualitätsbewußtsein, 2. die
physische Erscheinungsweise, d. h. der
Leib, g. das psychische Substrat, d. h. die
Seele, 4. der geistige Besitzstand, g. das
Innenbild als zusammenfassenden Begriff
der eigenen Individualität, 6. das Außen-
bild als Vorstellung anderer von unserer
Individualität, endlich y. die Objektiva-
tionen, d. h. objektive Leistungen.
Die Irrationalität besage, daß Leben
und Individualität sowie auch die auf-
13
195
Dr. RUDOLF EISLER: Psychologie im Umriß. Vierte, verbesserte Auflage.
Verlag von Oskar Ziegler, Marktredwitz.
Ein leichtverständlich gehaltener kurzer
Umriß, hauptsächlich den Wundtschen
Gedanken huldigend. Die Psychoanalyse
findet mehrfach Erwähnung, meistens mit
Anerkennung (Determiniertheit „freistei-
gender" Vorstellungen im Unterbewußten;
Sublimierung; Katharsis; erotische Fakto-
ren im individuellen, sozialen, kulturellen
Verhalten, in der Charakterbildung; sym-
bolische Ersatzreaktionen; Verdrängung;
die Rolle der aus der Kindheit stammenden
Komplexe —- „Vaterkomplex"; Bewußt-
machung als Therapie; Wunscherfüllung
im Traume — wenn auch nicht durchwegs).
Der Umstand, daß die Psychoanalyse sich
RICHARD MÜLLER-FREIENFELS:
Verlag F. Meiner. Leipzig 1921.
Unter den Methoden der Psychologie
und der Psychotherapie hat zu allererst
die Psychoanalyse die gründlichste Er-
kenntnis der persönlichen Erlebnisse
als Ziel hingestellt. Die Psychoanalyse
war nicht durch Aufdeckung von Krank-
heitssymptomen und psychischen Normal-
oder pathologischen Typen befriedigt,
sondern sie versuchte die Gesamtindividu-
während der Krankenbehandlung diesem
Ziele irgendwie näherte, konnte bemerken,
daß er mit der größten Anstrengung nach
Begriffen und Worten ringen mußte, durch
die die mehr weniger vollständig erfaßte
Individualität zu beschreiben wäre.
Der Psychoanalytiker wird es also als
natürlich empfinden, daß die „Individu-
alität" für das Denken ganz besondere
Probleme aufwirft. Müller-Freienfels
ist im vorliegenden Werke dem Problem
der Individualität von philosophischer Seite
näher getreten. Er sieht in der Individu-
alität (neben Substanz, Kraft und Form)
hier gerade im Rahmen der Wundtschen
Psychologie einer breiteren Verarbeitung
erfreut, muß meiner Meinung nach zwei
Lehren Wundts zugeschrieben werden,
das ist erstens die durchgehends volun-
taristische Auffassung und zweitens die
Apperzeptionslehre. Die erste Auf-
fassung kann als eine sublimierte Trieb-
lehre, die zweite als ein nicht klar aus-
gearbeitetes Durcheinander vom „Ich-
System" mit Zensur und von Systemen
Baj — Fine betrachtet werden. Einige ana-
tomisch-physiologische Angaben müßten
verbessert werden (z. B. Purkinjesches
Phänomen). Dr. I. Hermann.
Philosophie der Individualität.
eine Denkkategorie, hinter welcher
als reale Grundlage — als „Drittes" neben
Materie und Seelischem — das Leben
waltet. Wie das Leben, so sei auch die
Individualität irrational, d. h. sie kenne
die Sätze der rationalen Logik nicht: die
Sätze der Identität (A — A), des Wider-
spruchs (A kann nicht gleichzeitig B und
Nicht-B sein), des zureichenden Grundes
(Kausalität) verlieren hier ihre Gültigkeit.
Die irrationale Individualität soll sieben
verschiedene Erscheinungsweisen zeigen
können, und zwar 1. das unmittelbar er-
lebte Individualitätsbewußtsein, 2. die
physische Erscheinungsweise, d. h. der
Leib, g. das psychische Substrat, d. h. die
Seele, 4. der geistige Besitzstand, g. das
Innenbild als zusammenfassenden Begriff
der eigenen Individualität, 6. das Außen-
bild als Vorstellung anderer von unserer
Individualität, endlich y. die Objektiva-
tionen, d. h. objektive Leistungen.
Die Irrationalität besage, daß Leben
und Individualität sowie auch die auf-
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