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Justi, Karl
Das Marburger Schloß: Baugeschichte einer deutschen Burg — Marburg-Lahn, 1942

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https://doi.org/10.11588/diglit.41372#0010
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Vorwort

Das viel zu wenig bekannte, in den Burgenbüchern nur
flüchtig erwähnte Marburger Schloß, die Stammburg des Hau-
ses Brabant und Jahrhunderte lang Residenz der hessischen
Landgrafen, ist als eine niemals der Zerstörung verfallene, von
Anfang an ununterbrochen bis in unsere Tage bewohnte
Höhenburg ein seltenes Beispiel für die ständig fortschrei-
tende Anpassung an die wechselnden Anforderungen der Zeit-
läufe. Es war eine verlockende Aufgabe, statt der sonst üb-
lichen trockenen Inventarisation eine Baugeschichte zu ver-
fassen, die Wellen der Entwicklung in einzelnen Kapiteln auf-
zufangen und daneben die Reize zu stellen, die diese Um-
wandlungen ausgelöst haben. Am sichtbarsten waren die von
außen herantretenden Einflüsse: geschichtliche Ereignisse, po-
litische Zustände, Vervollkommnung der Waffen, Fortschritte
in der Belagerungs- und Verteidigungstechnik; dazu kamen
von innen her tätige Anstöße: die steigenden Ansprüche der
Bewohner auf Zahl und Größe der Räume, auf Sicherheit, Be-
quemlichkeit, Wasserversorgung, sanitäre Einrichtungen, Hei-
zung, Licht und Luft, Repräsentation, künstlerische Form.
Auch gehen von einer bedeutenden Burg Einwirkungen auf
die nähere und weitere Umgebung aus, auf die Entwicklung
der dazugehörigen Stadt und die Geschichte des Landes.
Die einzige größere Veröffentlichung über das Schloß
liegt seit 1934 in dem 8. Band der Bau- und Kunstdenkmäler
im Reg.-Bez. Kassel, Kreis Marburg-Stadt, bearbei-
tet von Friedrich Küch und Bernhard Niemeyer, vor. Den
kunstgeschichtlichen und erläuternden Text hatte Friedrich
Küch in nahe Aussicht gestellt. Es war ihm nicht vergönnt,
diesen Band, dessen Inhalt und Aufbau er wohl vorbereitet in
sich trug, niederzuschreiben. Im Februar 1936 empfahl
Staatsarchivrat Dr. C. Knetsch, der Nachfolger Küchs, den
Unterzeichneten für die Bearbeitung des Abschnittes über das
Marburger Schloß. Als Vorarbeiten waren außer dem Atlas ein
Manuskript aus der Feder Niemeyers und die Exzerptsamm-
lung Küchs vorhanden. Ohne diese 3 Grundlagen wäre es
nicht möglich gewesen, in absehbarer Zeit zum Ziele zu ge-
langen.
1. Von den 296 Tafeln des Atlas behandeln 104 Tafeln
(T. 123—226) das Marburger Schloß. Diese Tafeln, auf
die vielfach abgekürzt mit ,,T.“ hingewiesen wird, zeigen
alte und neue Ansichten des Schlosses sowie als zeich-
nerische Ergebnisse langwieriger Forschungen und Mes-
sungen, für die F. Küch in dem Architekten B. Nie-
meyer seinen Mitarbeiter fand, die Grund- und Auf-
lisse der Gebäude, Rekonstruktionen früherer Bauzustände,
architektonische Profile, Schnitte durch das Schloß, so-
wie von der Hand des Reg.-Baumeisters G. Textor eine
Höhenlinienkarte und Profile des Berges. Aus diesen Zeich-
nungen kann man, wie Küch bei unseren Unterhaltungen
über Altmarburg sagte, die Baugeschichte ablesen; allerdings
will diese Art von Lesen ebenso erlernt sein, wie die Kunst,
Steine zum Reden zu bringen. Sie besteht darin, daß man
alle Absonderlichkeiten der Gebäude, Fugen, Unterschiede in
Struktur und Gestein, Nischen, Fensterverschiebungen, Win-
kelbildungen aufspürt und sie nicht als Zufälligkeiten oder
als Schrullen eines Baumeisters beiseite läßt, sondern den darin
etwa verborgenen Rätseln nachgeht. Der mittelalterliche Mei-
ster beseitigte bei Um- und Neubauten nur das, was unweiger-

lich im Wege stand und nicht einbezogen werden konnte.
So blieben Mauerreste, eigenartige Raumgebilde, ja ganze Ge-
bäudeteile, vergleichbar den rudimentären Organen der Lebe-
wesen, erhalten, um vermöge des sogenannten FunktionsWech-
sels eine neue Rolle zu übernehmen. Für solche Untersuchun-
gen gewährt das Marburger Schloß nahezu unerschöpfliche Ge-
legenheiten.
Zu den Abbildungen des Atlas kamen zahlreiche Skizzen
und Zeichnungen meines Vaters Ferdinand und dessen Bru-
ders Ludwig Justi.
2. Als weiteres Ergebnis der gemeinsamen Arbeit hat Nie-
meyer eine im Wesentlichen den Burgkern betreffende Bau-
beschreibung, eine Bauanalyse ausgearbeitet, aus der ich an-
gesichts ihrer unübertrefflichen Fassung einige Befunde wört-
lich zu übernehmen mir erlaubt habe.
3. F. Küchs Exzerptsammlung. Unser Schloß beherbergte
bis zu dem Umzug in den Neubau des Staatsarchivs im Som-
mer 1938 eins der größten deutschen Archive mit einem rei-
chen Bestand auch an baugeschichtlichen Aufzeichnungen.
Küch hat im Laufe der drei Jahrzehnte seiner Marburger Tä-
tigkeit aus persönlicher Neigung auch diesen Schatz gehoben.
Außer manchen Zufallsfunden handelt es sich um die syste-
matische Erfassung der landgräflichen und städtischen Bau-
rechnungen aus Marburg und der Aufzeichnungen aus den
hessischen Ämtern. Das älteste Ausgabenregister gehört dem
Jahre 1372 an; 100 Jahre später werden die Nachrichten dich-
ter und so gegenständlich, daß sie auf die einzelnen Bauten
bezogen werden können. Nach einer Lücke finden wir gegen
Ende des 16. Jahrhunderts für jedes Rechnungsjahr einen
Folianten mit den genauen wöchentlichen Baurechnungen
Ebert Baldweins. Die Reihe der Rechnungen geht bis 1635.
Von da bis zum Ende des 18. Jahrhunderts geben die Akten
des Geheimen Rats und der Rentkammer wichtige Aufschlüsse.
Von besonderem Wert sind die Inventare der inneren Aus-
stattungen aus den Jahren 1557, 1605, 1607, 1646 und 1749.
Es ist mir eine angenehme Pflicht, Frau Geheimrat Küch
auch hier für die Überlassung dieser, für die Baugeschichte
unersetzlichen Sammlung meinen tief empfundenen Dank ab-
zustatten.
Eine Auswahl des Materials, darunter das Inventar des
Jahres 1607, ist in den Anhängen abgedruckt; es eröffnet dem
Leser einen vielseitigen Einblick in das Leben, die Sitten
verflossener Jahrhunderte, in altes Handwerk, in ehrwürdiges
Brauchtum, Aberglauben, in die meist unterschätzte mittel-
alterliche Technik, den Glanz einer fürstlichen Hofhaltung.
Bei den sprachlichen Erläuterungen fiel es auf, wieviele Fach-
wörter bei den Handwerkern noch heute gebräuchlich oder
zum mindesten verständlich geblieben sind.
Um die Ergebnisse der Bauanalyse durch eine Bausyn-
these anschaulich zu machen, wurde, meines Wissens zum er-
sten Male, der Versuch gemacht, nach dem in der Embryolo-
gie gebräuchlichen Verfahren die einzelnen Stufen der Bau-
entwicklung in Gipsmodellen darzustellen. Zunächst mußte
der von Menschenhand unberührte Berg nachgeformt werden.
Dies geschah mit Hilfe der Höhenlinienkarte (T. 9) und der
Profile (T. 10, 131 und 132), in die zwei Kenner der Bunt-
sandsteinformation, Bergrat Professor Dr. H. Lotz und Dr.
Walter Vietor, unabhängig von einander und übereinstim-
 
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