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Justi, Karl
Das Marburger Schloß: Baugeschichte einer deutschen Burg — Marburg-Lahn, 1942

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https://doi.org/10.11588/diglit.41372#0125
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8. Kapitel.
Das 19. Jahrhundert bis zu dem Anfall Kurhessens an Preußen

Die Franzosenzeit; die Einrichtung zum Gefängnis / Die Wiederherstellungsarbeiten durch den Baumeister
Arend / Verhandlungen über die Verlegung der Universität auf das Schloß 1834/35 / Plan der Einrichtung einer
Kaserne 1852.

Das 19. Jahrhundert brachte dem alten Landgrafenschloß
die traurigen Schicksale der Fremdherrschaft und der Herab-
würdigung zum Gefängnis. Im November 1806 rückten die
Franzosen in die Stadt ein und machten sie zu einem Haupt-
etappenplatz. Das alte Amt des Burggrafen oder Kastellans
und die Wache wurden aufgehoben, die gesamten Baulich-
keiten nahm die Militärbehörde in Besitz, weil man die Ge-
bäude anfänglich als geeignet für Kasernen betrachtete. In
die beiden Geschosse des Saalbaues kamen die von dem ent-
waffneten hessischen Militär abgelieferten Armatur — und
Montagestücke, die sehr bald nach Frankreich geschafft
wurden. Die Türme und feuersicheren Gewölbe dienten zur
Aufbewahrung der in Hessen Vorgefundenen Pulvervorräte.
Der Wilhelmsbau wurde als Lazarett eingerichtet und beher-
bergte manchmal über 400 Kranke. Uber die Franzosenzeit
besitzen wir den bereits erwähnten Bericht des Regierungs-
repositors Chabert und eine ausführliche Darstellung von L.
Müller in dem Boten aus Oberhessen Nr. 20—34 (Hessische
Landeszeitung 1906). Am 29. 12. 1806 überrumpelten mit
einem kühnen Handstreich unter der Führung des ehemali-
gen Husarenkorporals Moog aus Sterzhausen 80 alte Soldaten
und Bauern die 20 Mann starke französische Wache auf dem
Schloß und schlugen wiederholte Anstürme der städtischen
Besatzung ab; in den Straßen gab es blutige Kämpfe. Nach
dem Eintreffen eines italienischen Regimentes zogen die Er-
oberer am nächsten Tag ab. Es ist dies das einzige Mal, daß
die Burg mit bewaffneter Hand genommen wurde.
Auf Befehl Napoleons, der am 19. und 21. 1. 1807 die
Zerstörung der Burg und den Raub „aller Meubel, Effekten
und Statuetten der Kurfürstlichen Schlösser“ angeordnet hatte,
traf der französische Generalgouverneur Lagrange Anstalten,
die bei der Demolition stehengebliebenen Batterien und Kase-
matten zu sprengen. Französische Militäringenieure wurden
nach Marburg beordert; sie ließen Röhren und Kasten aus
Holz anfertigen und mit Pulver füllen. Das Holz beschafften
sie sich durch den Abbruch der Wirtschaftsgebäude im Nord-
zwinger (Bericht Arends vom 15. 7. 1809). An 100 Mann
schafften an der Niederlegung der Bastionen. Die Sprengun-
gen begannen an den nördlichen Bastionen und endigten an
dem Westabschnitt der Südbastion des Landgrafen Karl (Abb.
27, 15) im Grundstück: des Duisberghauses. „Es war an einem
Sonntage im März des Jahres 1807, nachmittags während des
Gottesdienstes, als die etwa 250—300 Schuh lange, sehr gut
konstruierte Mauer auf ein gegebenes Zeichen in die Luft
flog. Es glich einem Erdbeben und war schrecklich anzu-
sehen. Häusermauern, Fenster sprangen entzwei und die
ganze Stadt wurde durch und durch erschüttert. Am traurig-
sten sahen die gegenüberliegenden Gärten aus, die den gan-
zen Schutt aufnehmen mußten. Sämtliche Bäume wurden
ihrer Rinde und Äste beraubt, die Gartenhäuschen größten-
teils zertrümmert. Unter anderem flog ein Stein von mehreren
Zentnern in den Dachstuhl des an der Frankfurter Heerstraße
stehenden Hauses des Geheimen Rats R. Müller, zerschmet-

terte das Dach, die Decke des Saales und den Fußboden der-
gestalt, daß das schöne Haus einer Ruine glich“. Die Sprengung
war bekannt gemacht worden; kein Mensch verlor das Leben.
Die Gartenbesitzer wurden großmütig von dem General-
gouverneur entschädigt teils durch Zahlungen, teils durch Zu-
weisung anderer Grundstücke. Den Plan einer Kaserne auf
dem Schloß gab man schon aus dem Mangel an Wasser für
300—500 Mann auf. Der Kriegsminister gab nach der Zer-
störung der Festungswerke und dem Ablauf des vorläufi-
gen Generalgouvernements seine Ansprüche auf das Schloß auf
(Bericht von 1809). Nach der Schlacht bei Leipzig planten
die Franzosen das Schloß wieder zu befestigen; die Fort-
schritte der verbündeten Mächte vereitelten dies Vorhaben.
Die Einrichtung zum Gefängnis im Jahre 1809.
An dieser Stelle müssen wir einer Legende entgegentre-
ten, die auf den Kurfürsten von Hessen einen tiefen Schatten
geworfen hat. Ihm wird nachgesagt, und so steht es auf der
Geschichtstafel über der inneren Burgpforte zu lesen, daß er
im Jahre 1815 sein angestammtes Fürstenschloß zu einem Ge-
fängnis eingerichtet habe. Entsprechend heißt es in dem
Führer durch Marburg 1895 auf S. 23: „Im Jahre 1815 hatte
die kurhessische Regierung den nicht genug zu brandmarken-
den Entschluß gefaßt, das Stammschloß des hessischen Für-
stenhauses in ein Staatgefägnis für die schwersten Verbrecher
des Landes einzurichten“. Nach der Ausgabe von 1850 be-
fanden sich 100 Kettengefangene auf dem Schloß. Ein Erlaß
dieses Inhaltes ließ sich nicht auffinden; er wäre hinsichtlich
der Begründung dieses unbegreiflichen Schrittes von Interesse
gewesen. Dagegen stießen wir in dem oben erwähnten Be-
richt des Präfekturrates Schönfels vom 2. 8. 1809 auf die An-
gabe, daß in jenem Jahre 1809 auf Befehl des Jerome’schen
Justizministers von Bülow und im Einverständnis des nunmeh-
rigen Kriegsministers Lagrange in den drei Stockwerken des
Südflügels, der alten Residenz, 32 Gefängnisse eingerich-
tet worden sind, deren Kosten in der Höhe von 900 Thlr.
derselbe Justizminister bewilligt hatte. Es geschah, weil das
Kriminalgefängnis im Hexenturm, das sich aus dem dort seit
der Mitte des 16. Jahrhunderts bestehenden bürgerlichen Ge-
fängnis entwickelt hatte, „insufficient für das ehemalige Ober-
fürstentum Hessen, das nunmehrige ganze Departement“ ge-
worden war. Vermutlich spielte die Vergeltung für den schon
seit längerer Zeit den Behörden bekannt gewordenen, am
24. 6. 1809 entfesselten Aufstand des Obersten Emmerich
in Marbung hinein.
Entlang der Hofseite wurde je ein Längsgang mit Türen
zu den Zellen eingebaut. In der Zelle hinter dem Erker des
vierten Obergeschosses saß später, von 1839—1843 der Pro-
fessor Jordan als Gefangener — daher heißt der Erker das
Jordanstürmchen *). Die Fenster des Südflügels wurden, wie
die Tafel 146 zeigt, verkleinert, wobei die an sich kleinen
Fenster des alten Palas am wenigsten zu leiden hatten. Das

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