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Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Hrsg.]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 75.1925

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Eine Auseinandersetzung mit dem Expressionismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.7092#0016
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tige Denken ist nur ein Stammeln, in das aber Ver-
gangenheit eingeschlossen ist. Das Vergangene ist da-
bei der größere, bewußte Teil. Ich sehe demnach in
einer gewaltsamen Neuerung nur die Umkehrung, die
bewußte Umkehrung erkannter Vergangenheit, die
Flucht vor sich selbst, der man war, den Krampf der
Persönlichkeit aus den Geleisen herauszukommen, in
denen sie dahergefahren ist.

Wir dürfen eine gewisse Ruhe nicht verlieren. Ge-
gen den Strom schwimmen geht nicht. Doch ist es auch
nicht unsere Aufgabe, alles duldend über uns ergehen
zu lassen. Vielmehr
haben wir die Pflicht
in den Dingen, die
wir selbst tun müs-
sen, zu prüfen und
zu wägen, selbst
einen Standpunkt
mitzubringen. Die
Sache, der wir die-
nen, lebt doch nicht
von heute auf mor-
gen, sondern sie war
immer da, solange
man von Kulturen
scheinungen spricht.
Wir sind doch über-
zeugt von der Güte
unserer guten Sache,
die aus den Dingen
das herausholt, was
ans Licht will,- die
den Dingen entge^

genkommend das bringt, was diese Dinge erwarten;

Es wäre sehr merkwürdig und in hohem Maße be-
ängstigend, wenn Zwangsläufigkeit von der Antike
über die folgenden Erscheinungen zum Expressionist
mus geführt haben müßte. Zum Expressionismus als
berechtigte Massenerscheinung.

Daran glaube ich nicht. Dafür habe ich zu viel Ehr-
furcht vor dem organisch Gewachsenen. Welches or-
ganisch Gewachsene auf einer glücklichen Verbindung
von Subjekt und Objekt beruht und in dieser gesun-
den Verfassung bereit liegt zugrößeren Verbindungen
und schließlich zu geschlossenen Kulturkreisen geführt
hat. Es mag sein, daß alle diese Kulturen Irrtümer
waren, gemessen von der „Höhe" unserer Zeit. Aber
es waren dann doch wenigstens schöne Irrtümer.
Und waren alle unsere künstlerischen Kulturen ein
Irrtum, so muß der Expressionismus ganz gewiß auch
einer sein und er befände sich dabei nicht einmal in
schlechter Gesellschaft. Halten wir uns auf alle Fälle

ANTON KIESGEN

bereit für den nächsten Stil. — Wenn wir uns ganz im
Zeitlichen und Endlichen oder gar in Zukünftigem
verlieren, dann bestimmt unser Schicksal und das der
ganzen äthetischen Kultur ein früher verachtetes,
untergeordnetes Ding letzten Grades.

Die Mode, die wechselnde Zeitströmung. Es gibt
ein ewig Gleichbleibendes unbewußt für den Menschen.
Und um dieses eigentlich Triebhafte ist der handelnde
Mensch seit jeher herumgeschritten und hat mit dem
ihm innewohnenden Maß das Objekt für sich zurecht
gemacht. Sie sehen dieses ewig gleichbleibende an al-

lern unserer Kennt-
nis Zugänglichem.
Dieses Menschen^
maß ist bei aller Ver*

schiedenheit der
Ausdrucksweise der
Kulturkreise eine
fühlbare Unterströ-
mung. Und wenn
man nicht unbewußt
nach diesem inneren

Gesetz handeln
kann, dann muß man
mit Gedanken schär-
fer nach innen gra-
ben. Wenn man also
mit Bewußtsein han*
delt, so weiß man
warum man so han-
delt. Und wenn man
mit Bewußtsein in
seine „Seele" hinein»
leuchtet, so ist darin eigentlich gar nichts Neues. Viel-
mehr finden wir Erinnerungen, lauter Erinnerungen.
Das eigentlich Persönliche ist nur die Form, in der
diese Erinnerungen sich zusammenschließen und ans
Licht kommen. Dieser Vorgang geschieht trotz aller
Selbstkritik zwangsläufig. Da wird der grundlegende
Unterschied des wertvollen Menschen vom weniger
wertvollen von selbst zu Tage treten. Alles, was der
Mensch sich dabei Gewalt antut, wird sichtbar als un-
echt. Echt ist nur, was nicht anders kann, als es kommt.

Der Mensch, der sich selbst flieht, ist ein geborstenes
Gefäß, und sein Inhalt wird nicht reifen können, son-
dem wird ungegoren verschütten. Um in der Seele
etwas zum Reifen bringen zu können, muß man ihren
Raum ausfüllen mit Eindrücken. Es war viel zu lange
ein Schulirrtum, zu glauben, es wachse in der unberührt
ten Seele ganz von selbst etwas. Es ist unmöglich, eine
Erhöhung der Kultur von Menschen zu erwarten, die
keine bewußte oder unbewußte Erinnerung haben.

BEMALTER WANDSCHIRM

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