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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 3.1892

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Meyer, Alfred Gotthold: Die dritte Münchener Jahresausstellung, [4]
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https://doi.org/10.11588/diglit.5366#0048

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Gegenwart, sie weilte in einem „goldnen Zeitalter",
wo die seelischen Gewalten sich noch unbeirrt und
in voller Gesundheit regen, wo die Liebeswerbung,
Scham und Sinnlichkeit vereinend, an die Sprache
Homers gemahnt, sie entfloh zur Welt der antiken
Sage selbst und erschaute die „Hesperiden", „Diana"
und „Ganymed" und den „Raub der Helena", sie
umgab den Charakter der antiken Götter und Helden
mit einem mystischen Heiligenschein und übertrug
ihn auf die Gestalten des christlichen Olymp, auf
St. Georg und St. Martinus, sie übertrug sie endlich
auch auf die Erscheinungen der realen Welt und
verwandelte kraftvolle Jünglinge, „wandelnde Frauen"
und Greise in homerische Gestalten. — So schaltete
Marees' Phantasie, und ich brauche kaum erst zu be-
tonen, wie sehr sie hierin derjenigen Anselm Feuer-
bachs stammverwandt ist. Ihrem stolzen, schönen
Fluge aber kam Marees' Hand, sobald sie nicht flüch-
tige Kreideskizzen, sondern Gemälde schaffen wollte,
nur mühsam und langsam nach, so langsam — dass
sie während eines ganzen Menschenalters ihr Ideal
niemals völlig erreichte. — Dass die meisten dieser
Bilder im unfertigen Zustand geblieben, ist bedauer-
lich, aber es vermöchte die Anerkennung der in
ihnen waltenden Kraft nur unwesentlich zu schmä-
lern. Diese Kraft selbst jedoch offenbart nur gar
zu oft ihre Unzulänglichkeit. Derselbe Meister, der
in seinen winzigen Kreideskizzen den großen Cin-
quecentisten verwandt ist, übersieht in seinen Ge-
mälden ganz unentschuldbare Verzeichnungen, über-
sieht in ihnen ferner ganz unerklärliche Geschmack-
losigkeiten. Sein St. Hubertus beispielsweise sitzt
auf einem Klepper, dessen unnatürlich magerer Leib
und dessen hölzerne Beine geradezu Heiterkeit er-
regen, und sein St. Martinus auf einem Droschken-
gaul — seltsam genug, da die Kreideskizzen einige
ganz prächtige, temperamentvolle Pferdestudien auf-
weisen! Auch als Maler zeigt sich Marees seinen
Stoffen nicht gewachsen. Rücksichtlich des Kolorits
wäre der Hinweis auf Feuerbach oder gar auf Gior-
gione verfehlt. Zuweilen freilich erhebt er sich zu
ungewöhnlicher Wärme und zu einem satten Gold-
ton, weitaus am häufigsten aber bleibt er rein deko-
rativ oder matt und schwächlich, ja er bleibt, wie
in den weißlich-grauen Frauenleibern, überhaupt nur
bei der Untermalung. Dennoch erkennt man, dass Ma-
rees das Kolorit im Sinne der Stimmungsmalerei zu
verwerten bestrebt war. Ein dumpfes Blau und Rot
sind die Lieblingsfarben seiner Phantasie, und er
wählt sie häufig zu Grundakkorden seiner Kompo-
sition. Unfertigkeit, im Doppelsinn des Ausdrucks,

ließ aber auch diese koloristische Begabung nicht
zu voller Reife gedeihen, sie verführte ihn vielmehr
häufig zu auffallender Vernachlässigung fester, pla-
stischer Formen, obschon man behaupten könnte,
dass die Wiedergabe des nackten Menschenkörpers
ein Hauptziel seiner Kunst bildete, und den voll-
tönenden allegorischen und klassischen Titeln in
seinen Bildern vielfach nur Aktfiguren auf dunklem
Grunde entsprechen. — Und trotz aller dieser Ein-
wendungen, die sich mühelos noch vermehren ließen,
bleibt Hans von Marees eine kunsthistorisch bedeu-
tungsvolle Erscheinung und ein Künstler, dessen
Mängel und Absonderlichkeiten bisweilen vor einer
ganz ungewöhnlichen Größe verschwinden. Beispiele
hierfür bietet vor allem das umfangreiche, „Wer-
bung" betitelte Bild mit seiner halb mystischen,
halb allegorischen, halb klassischen Verkörperung
von Verlangen, Zögern, Überreden und Gewähren.
Selbst wo Marees zum Realisten wird — ich habe
hier insbesondere seine Porträts und den vor Frost
zitternden Bettler aus der Martinslegende im Auge
— bewahrt er Größe und Adel. — Das Urteil über
ihn ist geteilt und wird es bleiben, wie das Urteil
etwa über Max Klinger, mit dem Marees auch sonst
mannigfache Ähnlichkeit besitzt, aber selbst die
schlimmsten Spötter werden ihm einen Ruhm zuge-
stehen müssen: ausgesprochene, wenn auch nicht
ausgereifte Individualität, die, allem Kleinlichen ab-
hold, nach hohen Zielen strebte, und gleichermaßen
muss im Spezielleren hervorgehoben werden, dass
dieser idealistische Träumer niemals schwächlich
und konventionell geworden ist — ein Lob, aut
welches in unseren Tagen nur wenige Vertreter
seiner Kunstgattung Anspruch erheben dürfen. —
Den unfertigen Werken von Hans von Marees trat
in einer zweiten Sonderausstellung das Bild einer
in sich völlig abgeschlossenen und gefestigten Kiinst-
lerpersönlichkeit gegenüber, die bereits zu den „mo-
dernen Klassikern" zählt: eine stattliche Reihe von
Arbeiten des Frankfurters Hans Thoma. Er ist auch
in weiteren Kreisen wohlbekannt, insbesondere in
München durch eine frühere Ausstellung des Kunst-
vereins. Auch in Thoma's Kunst paaren sich eigen-
artige Gegensätze. Einerseits ist er Kolorist, liebt
leuchtende, satte Farben, ja koloristische Effekte —
sein stimmungsvolles Nachtstück „Ruhe auf der
Flucht" und sein „Violinspieler", der dem aufgehen-
den Mond ein Ständchen bringt, bezeugen dies zur
Genüge — aber er ist andererseits ein Herold pla-
stischer Formenschönheit. Seine nackten Gestalten,
wie die „Bogenschützen" und „Adam und Eva"
 
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