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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 25.1914

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Weiss, Hermann: Die Mode und die Musterzeichner
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https://doi.org/10.11588/diglit.3870#0036

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beliebt waren zuletzt große naturalistische Dessins, die bei
der Herstellung der Skizzen und Patronen einen großen
Zeitaufwand erforderten. Die Musterzeichner mußten in der
Saison fieberhaft arbeiten, um den Bedarf nur einigermaßen
zu decken. Die jahrelange Gunst der Mode mit ihren
Gewinnchancen veranlaßten die Fabrikanten und Atelier-
besitzer, sich nach und nach einen großen Stab von Muster-
zeichnern aus allen Gegenden heranzuziehen und für dieses
Spezialfach einzurichten. Plötzlich wurden aber die groß-
gemusterten Stoffe nicht mehr begehrt. Die Mode wandte
ihre Gunst den Besätzen, den Spitzen und Stickereien zu
und konnte daher nur noch Unimuster in den Kleider-
stoffen gebrauchen. Da waren die »guten Zeiten« für die
Stoffzeichner mit einem Male weg und sind seitdem auch
nicht wiedergekommen. Die meisten Zeichner wurden
entlassen. Sie mußten, weil sie Spezialisten waren, mit
schweren Opfern einen völlig neuen Wirkungskreis suchen,
in dem sie fast ausnahmslos eine Verschlechterung ihrer
Existenzbedingungen in den Kauf zu nehmen hatten. Vorher
hatte aber fast jeder eine mehr oder minder lange Periode
der Stellenlosigkeit durchzumachen. Im Hauptorte der
Kleiderstoffbranche fiel damals die Zahl der beschäftigten
Zeichner in knapp einem Jahre von 250 auf 40. Erst heute,
nachdem wieder großblumige Muster auf allen Gebieten
modern geworden sind, macht sich auch dort wieder ein
langsamer Aufstieg bemerkbar. q
n Nicht minder verhängnisvoll war der Einfluß der Mode
auf die Musterzeichner in der Seidenstoffweberei, nament-
lich in der Fabrikation der Kravattenstoffe. In Krefeld
setzte um dieselbe Zeit ebenfalls eine Modekrise ein, die
auch auf die Bevorzugung der Unimuster zurückzuführen
war. Nach einem halben Jahre der Depression waren
dort von zirka 300 Musterzeichnern nur noch zirka 130 in
Stellung und auch sie spürten die Wirkung der Krise in
verkürzter Arbeitszeit mit entsprechendem Lohnausfall oder
wochenlangem Aussetzen der Arbeit. □
□ Gegenwärtig .erleben wir etwas Ähnliches in der Spitzen-
fabrikation. Zu einer durch die Entwicklung der Technik
und durch die ungünstigen Einflüsse des gesamten Wirt-
schaftslebens verursachten Stockung in der Herstellung
gestickter Spitzen hat sich neuerdings noch die Ungunst
der Mode gesteht. Die jahrzehnte dauernde Vorliebe für
die gestickte Spitze hat plötzlich nachgelassen. Der heute
beliebte farbig bemusterte Druck- oder Jacquardstoff kann
die kräftige Maschinenspitze nicht in so großer Vielseitig-
keit vertragen wie der Unistoff. Er bevorzugt zarte, ge-
webte Spitzen oder verzichtet überhaupt darauf. — Die
vogtländische Stickerei- und Spitzenindustrie hatte bis vor
kurzem eine über alle Maßen lange Hochkonjunktur, die
innerhalb eines Zeitraumes von 15 Jahren nur einmal durch
ein kurzes Abflauen unterbrochen wurde. Ihr Bedarf an
zeichnerischen Arbeitskräften war noch im vorigen Jahre
so enorm, daß man alles, was nur irgendwie glaubte, zum
Zeichnen befähigt zu sein, in irgend einer Weise in die
Arbeitsmaschinerie eingliederte. Die Zahl der beschäftig-
ten Musterzeichner stieg in Plauen innerhalb sechs bis
acht Jahren von 800 auf 1500, und selbst die waren nicht
imstande, in normaler Arbeitszeit den Musterbedarf zu
decken. In einem einzigen Jahre wurden dort annähernd
eine Million neuer Muster auf den Markt gebracht. Das
war nur möglich mit Hilfe einer bis an die äußerste Grenze
der physischen Leistungsfähigkeit gehenden Überarbeit.
Ein Außenstehender kann sich keine Vorstellung davon
machen, in welchem Umfange die Plauener Stickerei-
zeichner Überarbeit, in Form von Hausarbeit nach Schluß
der regulären neun- bis zehnstündigen Arbeitszeit im Atelier,
leisteten. Gesamtarbeitszeiten von 14, 16, ja 18 Stunden
täglich, monatelang, ja durch Jahre hindurch, waren keine
Kunstgewerbeblatt. N. F. XXV. H. 2

Seltenheiten! Es war wie ein Taumel über sie gekommen.
Nur möglichst schnell, möglichst viel Geld verdienen 1 das
war die allgemeine Losung in der ganzen Industrie. Sie
wurde rücksichtslos von allen: von den Fabrikanten, Stickern,
Zeichnern und Arbeitern befolgt. Gesundheit und Familien-
leben galten nichts. An Stelle der Kollegialität trat die
Sucht, den andern zu überholen, Mißtrauen, Haß, Neid
und Mißgunst. Die plan- und regellose Produktion öffnete
den unlautersten Elementen Tür und Tor. Unsolide, ja
teilweise betrügerische Geschäftsusancen bürgerten sich
hie und da ein — kurzum, man könnte beinahe behaupten,
daß die ganze Produktion auf einer ungesunden Grund-
lage stand. n
n Nachdem sich die ersten Stockungen schon im Spät-
herbst 1912 bemerkbar gemacht hatten, brach die Krise
mit ganzer Wucht im Frühjahr 1913 herein. Man schätzte,
daß zur Zeit der tiefsten Depression im Mai 1913 300
Musterzeichner die ganze vorhandene Arbeit hätten be-
wältigen können. In kurzer Zeit waren schon Hunderte
ohne Stellung. Gegenwärtig ist ja wieder etwas mehr
Arbeit da, aber jedermann sieht mit Schrecken in die
Zukunft. Die Lage der Musterzeichner wird dadurch sehr
erschwert, daß sie in anderen Branchen der Zeichnerei
keine Stellung finden können, weil sie zu einem großen
Teile nur für Spitzen und darin auch nur für gewisse
zeichnerische Teilarbeiten ausgebildet und beschäftigt
werden. n
□ Durch die Modesaisonarbeit wird die Mechanisierung
der Arbeit gefördert. Auch im Zeichnerberuf entwickelt
und fördert sie arbeitsteilige Produktionsmethoden. Es
ist kaum glaublich, in welchem Maße die Arbeit des
Musterzeichners unter dem Drucke des eiligen Massen-
bedarfes in Teilfunktionen aufgelöst werden kann. Es ist
an sich schon keine leichte Sache, zeitlebens nur Spitzen
zu entwerfen und event. sogar nur Spezialist für ein be-
stimmtes Genre zu sein. Zu dem Entwerfer gesellt sich
aber noch der Werkzeichner, der sog. Vergrößerer, der
nur die Werkzeichnungen (Schablonen) anlegt und ausführt.
In dem gesteigerten Verlangen nach immer größeren
Leistungsmengen hat man aber das Anlegen und das Aus-
führen der Schablonen auch schon wieder getrennt und
bestimmte Personen mit diesen Teilarbeiten betraut. So
ist es begreiflich, daß hier zuletzt das fast Unglaubliche
eintritt, daß nach und nach eine ganze Anzahl von Muster-
zeichnern zur Akkordarbeit gelangten. n
□ Dieses ausschließliche Verlangen nach unausgesetzter
Steigerung der Quantität, das sogar die zeichnerische Akkord-
arbeit gebiert, muß der schärfste Feind guter Qualitäts-
arbeit sein. D
□ Die Mode ist ganz gewiß nicht die alleinige Ursache
dieser Produktionsentwicklung mit ihren gefährlichen Be-
gleiterscheinungen, aber sie fördert sie in weitestem Maße.
Es ist für die zukünftige Entwicklung des Kunstgewerbes
nicht belanglos, daß die Forderung nach Qualitätsproduktion
in dem der Mode unterworfenen Teil auf solche ernsten
Hindernisse stößt, wie sie in der vorliegenden Schilderung
gekennzeichnet wurden. Sie läßt jedenfalls erkennen, daß
es sich lohnt, zu erforschen, bis zu welchem Grade die
Modeeinflüsse ausgeschaltet, oder wenigstens ihre übelsten
Begleiterscheinungen beseitigt werden können. o

»Einen Einfall zu haben, ist sehr leicht. Ihn als welt-
beherrschend durchzuführen, ist auch der Mächtigste nicht
mächtig genug. Da tritt wieder der undefinierbare Faktor
ein, den wir so gern aus der Betrachtung ausscheiden
möchten: die Zeitströmung, die öffentliche Meinung.«
Julius Lessing.

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