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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 25.1914

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Klopfer, Paul: Über Geschmacksbildung und Freihandzeichnen an Baugewerkschulen
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https://doi.org/10.11588/diglit.3870#0080

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Schüler durchzubilden, sondern aus der Heimat, d. h. aus
ihrer lokalen Umgebung heraus, an der Hand der dort
entstandenen Bauten, zu unterrichten. Besonders wäre
nachzuweisen, wie aus wirtschaftlich-räumlichen Zwecken
die Form des Hauses als Ganzes entstanden ist, und in
welcher Beziehung die Einzelheiten daran zu Material und
Konstruktion stehen. □
□ Sind diese Beziehungen vom Schüler erkannt, dann ver-
bleibt in ihm sicher auch das Bild von der Form des
Hauses und von den Formen am Hause. n
d Aber nicht genug damit! o
o Der Städtebau, der erst in den letzten 20 Jahren eine
Disziplin auf dem Gebiete des Hochbaues auch in ästhe-
tischer Hinsicht geworden ist, und der erst nach und nach
auch an unsern Bauschulen als notwendiger Faktor im
Lehrplan erkannt wird, hat bei der Geschmacksbildung des
Bauschülers ein gewichtiges Wort mitzusprechen. □
□ Das Haus als Teil der Straße, die Straße als Teil der
Stadt — also Raumbetrachtungen im Großen gehören zum
Verstehen der Flausform ebenso wie auf der andern Seite
die Kenntnis der Profile und Gesimse. □
d Das Interesse des Schülers auf solch große umfang-
reiche ästhetische Fragen zu lenken — das ist nun durch-
aus Sache des Formenunterrichts, der Gestaltungslehre und
in ihrer zeichnerischen Anwendung: des Freihandzeichnens.
□ Die Frage, ob das Freihandzeichnen damit beginnen
soll, den Raumsinn des Schülers aus dem Ganzen heraus
zu bilden, oder in ihm zunächst neben einiger Zeichen-
praxis das Verständnis zu bilden für das Detail, ist zurzeit
noch nicht entschieden. Ich vertrete den Standpunkt, daß
zunächst der Sinn fiir den Raum geweckt werden soll.
Das Abzeichnen einer Kiste, dann das Schulzimmer, dann
eines Hauses in der Straße, dann der Straße oder des
Platzes erscheint mir zunächst wichtiger als das Beibringen
von Verständnis für Gipsornamente oder das Anerziehen
von Strichtechniken in Kreide, Blei oder Feder. Denn ich
sage mir, daß die Kenntnis der Schmuckteile am Hause
an sich dem Schüler nichts nutzt, bevor er das Haus nicht
kennt, an dem diese sitzen sollen. □
n Nun mag es zunächst freilich ungeheuerlich erscheinen,
von Aufgaben im Freihandzeichenen zu sprechen, die sich
auf Nachbildung von Straßenräumen beziehen. Man muß
doch bedenken, daß Bauschiiler, die kein Talent zum
Zeichnen haben, mindestens 4/5 bis 9/10 der gesamten
Schülerzahl an einer Schule darstellen! Daß die Jungen
von der Fortbildungsschule kommen, die ihnen wohl in
zwei oder vier Stunden die Woche die nötigsten Begriffe
von der Handhabung des Stiftes und der Feder beigebracht,

wohl auch die Grundgesetze der Perspektive klargemacht
haben, daß sie aber vor dem Straßen- oder Platzbild
geradezu verwirrt werden müssen. Wie ich mir die Lösung
der Frage denke, mag die Abbildung 1 erklären, die ein
Schüler aus Klasse IV der Weimarer Bauschule1), der also
im zweiten Schulhalbjahr steht, gezeichnet hat. Die Haupt-
aufgabe für den Lehrer hat zunächst darin bestanden, dem
Schüler allerlei zu verbieten. Dem Schüler wurde verboten
1. die Fenster im Hause links oben, 2. die Steinfugen in
der Treppenmauer, 3. die Blätter des Baumes zu zeichnen,
dagegen nur acht zu geben 1. daß der Platz, auf dem der
Brunnen steht, sich nach diesem zu senkt, was im Pflaster
zu beobachten war, 2. daß die perspektivischen Linien der
verschiedenen baulichen Objekte alle ihre verschiedenen
Fluchtpunkte bekamen und behielten und 3. daß das
Ganze einen klaren Strich bekam. Der Extrakt des Bildes,
wie ich das nennen möchte, gab nun ein Bild für sich, an
dem das Schülerauge wie an einem Ornament sein Sonder-
vergnügen haben konnte, wenn es das Spiel der Linien,
den Wechsel der Flächen beobachtete. Der Raum wurde
zur Fläche. Um die Fläche in den Raum zurückzubringen,
müssen Tonwerte eingefügt werden. Auch da ist freilich
große kritische Erwägung nötig: wir haben nur den ein-
fachen, die weiße Fläche umschließenden Strich, dann die
Strichlage in einer Richtung, dann die Strichlage kreuz-
weis übereinander. Abb. 2 zeigt, wie der Schüler versucht
hat, diese einfache Technik anzuwenden, um dem Ftächeu-
bilde den Raum zurückzugeben. □
□ Ich glaube, daß diese Vertiefung in eine Zeichenaufgabe
auf jeden Fall den Geschmacksinn des Schülers erzieht,
besser erzieht, als wenn ihm an sich »schöne« Formen
zum Nachzeichnen vorgesetzt werden. Ich habe selbst
erfahren, daß noch so schöne Formen, wenn sie kein
ästhetisches Echo wecken, gleich Null sind, während die
einfachen Umgrenzungen eines Kastens in ihren Über-
schneidungen und Kreuzungen mit den Linien, die den
Raum des Hintergrundes säumen, erzieherischen Wert
haben können. Es kommt nur auf den Lehrer an, den
Resonanzboden im Schüler vorzubereiten und ihm be-
greiflich zu machen, daß zur Auffassung eines Bildes
zunächst etwas gehört, das die meisten Menschen für
überflüssig halten: nämlich Gehirnarbeit. Wird der Schüler
zum Leisten solcher Arbeit erzogen, dann möchte ich bei-
nahe das Versprechen geben, daß — auch bei keinem
Talente — Geschmack und Zeichenlust anerzogen werden
können.

1) Lehrer: Oberlehrer Dipl.-Ing. Martini.

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