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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 27.1915/​1916

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Behne, Adolf: Das Können in der primitiven Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.4828#0054

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DAS KÖNNEN IN DER PRIMITIVEN KUNST

VON DR. ADOLF BEHNE

ES ist dem Publikum eingeboren, die Stileigen-
tümlichkeiten früherer Kunstepochen als Ausfluß
eines Nichtkönnens zu interpretieren. Vom
sicheren Grunde der Linear- und Luftperspektive aus
die teils rührend-ernsthaften, teils naiv-komischen Be-
strebungen der Altvordern um die Naturrichtigkeit zu
kritisieren, das ist einer der schönsten Genüsse, die
ein Museum zu bieten vermag. Nur wenige kommen
auf den Gedanken, es möchte diese frühe Kunst doch
vielleicht besser verstanden werden, wenn man nicht
alles, was sich dem landläufigen Begriff verschließt,
ohne weiteres als »mißglückt« oder »nicht gekonnt«
abfertigt. Dem Wahrheitsuchenden sollten die be-
fremdenden Züge eines alten Kunstwerkes zu einem
besonders liebevollen und intensiven Studium den
Anlaß geben, denn gerade in ihnen wäre doch
logischerweise das Eigentümliche und Persönliche
einer bestimmten Epoche zu erkennen. Daß nun das
Publikum von einem solchen Eingehen auf die Be-
sonderheiten früher Kunstwerke nicht das geringste
wissen will, hat seinen Grund in dem auf allen Ge-
bieten gleicherweise noch immer verbreiteten Aber-
glauben der »Entwicklung«. Ganz natürlich muß
derjenige, der in allen Dingen eine Entwicklung sieht,
das Gegenwärtige für das bisher Beste halten, das
also den Maßstab für alles Frühere gibt. Die Kunst
nun hat sich von dem »befangenen« Skulptor des
ludovisischen Thrones zu den Pergamenern, zu Ber-
nini und Begas, vom »primitiven« Giotto zu Cor-
reggio, Kaulbach und Hugo Vogel entwickelt.

Gibt für den Jünger der Entwicklungslehre die
letzte existierende Kunslphase den Maßstab für alles
Frühere ab, so ist dieser Maßstab heute für das größere
Publikum der >Naturalismus«. Das heißt, das Pu-
blikum sieht, weniger vielleicht aus Prinzip, als im
Banne der herrschenden Kunstrichtung, alle frühere
Kunst nur unter dem Gesichtspunkt an: »wie weit
entspricht sie bereits dem Ideal einer einwandfreien,
richtigen Wiedergabe der Natur?« Es braucht nicht
weiter erklärt zu werden, daß dann die frühere Kunst
eine recht schlechte Note bekommt, ja das Publikum,
das mit einem ernsteren Interesse ja tatsächlich erst
die Säle der Holländer besucht, würde die romanische
und gotische Malerei und Skulptur sicherlich ganz
und gar ablehnen, wenn diese Dinge nicht wegen
ihres so hohen Alters wieder einige Suggestion
ausübten.

Man könnte ja nun über die Irrtümer und Vor-
urteile des Publikums zur Tagesordnung übergehen,
wenn sie nicht doch eine sehr ernsthafte Konsequenz
hätten, indem sie den jungen Künstlern, die heute
um eine neue Kunst kämpfen, das Leben und die
Arbeit erschwerten. Denn diese neue Kunst paßt in
das Entwicklungsschema nicht hinein, sie ist nicht
eine Fortsetzung oder Steigerung des Naturalismus,
sondern sein Gegensatz. Dieser neuen Kunst gegen-
über also versagt der Maßstab der Natürlichkeit —

was für das Publikum so viel bedeutet wie: diese
moderne Kunst ist keine Kunst, sie ist ein Rückfall
in Barbarerei!

Das ist vom Standpunkt des Publikums nun auch
ganz gewiß wahr! Um die Geistesverwandten der
Franz Marc, der Kandinsky, der Nolde zu finden,
muß man schon bis in recht frühe Jahrhunderte
zurückgehen; mit Manet, Velasquez und Rubens haben
sie nur wenig zu schaffen, aber um so mehr mit den
Bildnern und Malern des 12., 13. und 14. Jahr-
hunderts, mit den primitiven Griechen, den Ägyptern,
ja mit der Kunst der Kinder und der Naturvölker —
ein Stammbaum, der in den Augen des entwicklungs-
gläubigen Publikums natürlich keine Empfehlung ist.

Eine gerechtere Beurteilung der neuen Kunst ist
nicht zu erhoffen, ehe das Publikum nicht einen
anderen Maßstab als den der Naturrichtigkeit an die
moderne Kunst anlegen will. An die moderne Kunst?
An die Kunst überhaupt! Denn wie wir gesehen
haben, leidet ja auch die primitive Kunst der Ver-
gangenheit unter der falschen Einstellung des Pu-
blikums. Wogegen angekämpft werden muß, das ist
ganz allgemein die Meinung, als beruhten die Eigen-
tümlichkeiten primitiver Kunst auf einem Nichtkönnen,
wobei wir den Begriff des »Primitiven« in etwas
weiterem Sinne nehmen, als es üblich ist, indem wir
alle nicht-naturalistische Kunst als primitiv bezeichnen.
Nun wird das Publikum geneigter sein, sich für die
alte Kunst von der Irrtümlichkeit seiner Meinung
überzeugen zu lassen als für die neue Kunst. Denn
in dieser sieht es allzugern noch immer nur Unreife,
Exzentrizität und Mache, während es vor der alten
Kunst, auch wenn es sie nicht goutiert, doch rein
äußerlich eine gewisse Achtung hat, einmal wegen
des hohen Alters, das allen Dingen einen Nimbus zu
geben vermag, dann aber auch wegen der großen
Mühen, die Gelehrte von Ruf, Universitätsprofessoren
und Galeriedirektoren auf sie verwendet haben. Die
alte Kunst wird man also immerhin ernst nehmen
müssen. Der modernen Kunst gegenüber zwingt noch
nichts dazu.

Eigentlich sollte es doch jedem denkenden Men-
schen klar sein, daß es sich bei den Besonderheiten
eines primitiven Kunstwerkes keineswegs um ein
Nichtkönnen handelt! Es ist merkwürdig, mit welchem
Dünkel man allgemein an primitive Kunstwerke heran-
tritt. Die vom Standpunkte der Naturrichtigkeit aus
allerunsinnigsten Dinge werden — als Irrtümer und
Unkenntnisse! — dem Gotiker ohne weiteres zu-
getraut. Nur als Dünkel ist es doch zu benennen,
wenn der kluge Betrachter des 20. Jahrhunderts es
einer Diskussion gar nicht erst für wert hält, ob
nicht etwa er einen falschen Maßstab anlege, ob
also nicht etwa er einen Fehler begehe. Er ist un-
fehlbar, dem primitiven Künstler jedoch ist jeder
Unverstand, und sei er noch so kraß, ohne weiteres
zuzutrauen.

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