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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 27.1915/​1916

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Über die Ausbildung des Kunstgewerblers
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https://doi.org/10.11588/diglit.4828#0076

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scheidet für den Kunstgewerbler die Dynamik, der
schwierigere Teil der technischen Mechanik aus, da
ja die Gegenstände des Kunstgewerbes sich bewegen-
den Kräften nicht ausgesetzt sind, sondern sich im
Zustande der Ruhe befinden. Ein besonders wich-
tiger Zweig der technischen Mechanik ist nun die
Festigkeits- und Elastizitätslehre. Sie befaßt sich mit
der Untersuchung der Formänderung eines durch
äußere Kräfte in Anspruch genommenen Körpers.
Mit Hilfe dieser Lehre kann die zulässige Belastung
eines Körpers ermittelt werden, bei der ein bestimmtes
Maß der erfahrungsgemäß noch erlaubten Form-
änderung nicht überschritten wird. Sie zeigt auch,
wie die Formen eines Körpers zu bemessen sind,
damit er in allen Teilen gleich stark beansprucht wird,
d. h. überall gleich fest ist, so daß also das Material
möglichst gut ausgenutzt wird. Diese auf den Ge-
setzen der Physik beruhende technische Mechanik,
welche eine der wichtigsten Grundlagen des Ingenieur-
wesens bildet, setzt freilich für den Ingenieur die
Kenntnis der höheren Mathematik voraus, wenn er
allen an ihn gestellten Aufgaben gerecht werden will.
Indessen genügt für die im Kunstgewerbe vorkom-
menden einfacheren Gegenstände die Kenntnis der
Elementarmechanik, die auch dem Techniker ohne
Hochschulbildung mit der auf den Mittelschulen ge-
lehrten Mathematik beigebracht zu werden pflegt.
Daher ist anzunehmen, daß auch der Durchschnitt
der Kunstgewerbler, der wohl über tiefere mathe-
matische Kenntnisse im allgemeinen nicht verfügen
dürfte, diejenige Vorbildung besitzen wird, die zur
Erlernung der wichtigsten Gesetze der Statik und
Festigkeitslehre notwendig ist.

Die Kenntnis dieser Gesetze erscheint in zweierlei
Hinsicht für den Kunstgewerbler von Nutzen. Sie
befähigt ihn einmal, Gegenstände, die Kraftwirkungen
ausgesetzt sind, auf ihre Festigkeit hin zu berechnen
und ihnen diejenigen Abmessungen zu geben, deren
sie zum sicheren Aufnehmen der Kräfte bedürfen.
Zweitens aber, und das wird für das wichtigste ge-
halten, führt ihn die Kenntnis dieser Gesetze zur Er-
langung eines richtigen Formgefühls, da eben die
Formen mancher kunstgewerblicher Gegenstände nicht
allein von der Beschaffenheit und der Herstellung der
Materialien, sondern auch von der Art ihrer Belastung
und den sonst auftretenden Kraftwirkungen ab-
hängig sind.

Die Berechnung kunstgewerblicher Gegenstände
auf Festigkeit ist notwendig, wenn es gilt, erhebliche
Kräfte zu übertragen. Beispielsweise ist es unerläßlich,
die Tragketten, Tragseile, Gestänge oder Haken, an
denen schwere Beleuchtungskörper hängen, auf Festig-
keit zu berechnen, um die Gefahr eines Bruches dieser
Tragglieder unter Wirkung der größeren an ihnen
hängenden Gewichte mit Sicherheit auszuschließen.
Handelt es sich um Beleuchtungskörper mit Zug-
vorrichtungen zum Hoch- und Niederziehen der
Lampen, dann müssen auch die Bolzen der Führungs-
rollen berechnet werden, da sie außer dem Gewicht
der Lampen noch die Gegengewichte zu tragen haben.
An Möbelstücken ferner sind Füße, Säulen und

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Konsole mitunter so stark belastet, daß ein Berechnen
dieser Teile auf Festigkeit erforderlich wird. In neuerer
Zeit wendet sich die kunstgewerbliche Bewegung
wie in früheren Zeiten auch den Geräten des prak-
tischen Bedarfs, Dampfkochtöpfen, Wagen, Schrauben-
pressen u. dgl. zu. Hierbei ist die Kenntnis der tech-
nischen Mechanik erst recht nicht zu vermeiden, wenn
die Entwürfe des Kunstgewerbes die allhergebrachten
Erzeugnisse des Ingenieurs — was doch beabsichtigt
ist ■— übertreffen sollen.

Bei kunstgewerblichen Gegenständen aus edleren
und daher teureren Materialien hat die durch zweck-
entsprechende Formgebung erzielte Materialersparnis
naturgemäß große Bedeutung. Silberne Löffel,
Gabeln u. dgl. verbiegen sich wie jeder stabförmige
Körper am leichtesten, wenn die Griffe flach gebildet
sind. Trotzdem werden aber von unseren Kunst-
gewerblern immer wieder derartige Geräte mit flachen
Griffen entworfen. Mit Hilfe der Festigkeitslehre läßt
sich nun leicht berechnen, in welchem Maße die ver-
schiedenen Querschnittsformen dem Verbiegen des
Griffes ausgesetzt sind. Nimmt man beispielsweise
an, daß ein flacher Griff eines Löffels an seiner
schwächsten Stelle 4,5 mm breit und 2 mm dick sei
(Abb. 1), dann hat er an dieser Stelle einen Quer-
schnitt von g mm2. Die Rechnung, die jedoch hier
nicht näher ausgeführt werden soll, ergibt hierfür ein
»Widerstandsmoment« von 3 mm3. Verwandelt man
nun diesen flachen Querschnitt in einen solchen von
runder Form (Abb. 2), dann erhält dieser einen Durch-
messer von etwa 3,4 mm. Dieser Querschnitt besitzt
alsdann, wie die Rechnung ergibt, ein »Widerstands-
moment« von 3,8 mm3. Die Festigkeit des Griffes ist
mithin um 26 Prozent erhöht worden, ohne daß ein
Mehraufwand an Material überhaupt notwendig ge-
worden ist. Noch günstiger gestalten sich die Ver-
hältnisse bei quadratischer Querschnittsform (Abb. 3).
Wird wiederum die gleiche Materialmenge voraus-
gesetzt, so ergibt sich eine Breite und Höhe von je
3 mm. Das hierfür errechnete »Widerstandsmoment«
ist 4,5 mm3, was eine Erhöhung der Sicherheit gegen
Verbiegen um 50 Prozent gegenüber dem flachen
Querschnitt ergibt. Würde man endlich den abge-
bildeten I-förmigen Querschnitt (Abb. 4) wählen, dann
erhält man sogar ein »Widerstandsmoment« von
5,166 mm3 bei gleichem Materialaufwand wie für
den flachen Querschnitt. Die Festigkeit ist alsdann
um 72 Prozent gesteigert worden.

So nützlich hiernach die technische Mechanik für
die Berechnung gewisser kunstgewerblicher Gegen-
stände ist, so wird doch der Hauptvorteil ihrer Kenntnis
in der Erlangung eines besseren Formgefühls gesehen.

Betrachtet man beispielsweise den in Abb. 5 dar-
gestellten Beleuchtungskörper, der von der Bayrischen
Gewerbeschau 1912 in München ausgestellt und dem-
nach als mustergültiger Entwurf anerkannt worden ist,
dann muß die Form der langen Tragkettenglieder be-
fremden. Dies ist nämlich darin begründet, daß diese
Kettenglieder das Gewicht der Lampe nicht als reine
Zugkraft übertragen, sondern »auf Biegung bean-
sprucht« werden. Der Grundsatz, daß die Kräfte
 
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